Ewiglich die Sehnsucht - Ashton, B: Ewiglich die Sehnsucht
Tabak, und aus seinem Hemdkragen rankten sich Tattoos von Reben und Stacheldraht und schlängelten sich den Hals hinauf. Ohne den Fotografen eines weiteren Blickes zu würdigen, führte er mich in den Speisesaal, in dem es nach einer Mischung aus Cafeteria und Secondhandladen roch.
An der Essensausgabe hatte ich im Nu den Bogen raus, und nach nur wenigen Schüsseln schenkte ich das Essen aus wie ein alter Hase. Der Fotograf machte die obligatorischen Fotos von mir mit der Schöpfkelle in der Hand. Dann zog er ab.
Je länger die Warteschlange wurde, desto weniger konnte ich die Gesichter studieren und mich fragen, wie es wohl dazu gekommen war, dass diese Leute in einer Suppenküche anstehen mussten. Irgendwann klatschte ich einfach nur noch Chili in die Schüsseln und versuchte, das Zittern der Hand zu unterdrücken, die die Kelle hielt.
Die meisten Leute nahmen das Essen wortlos entgegen, daher blickte ich verblüfft auf, als eine alte Frau zu mir sagte: »Du bist eine richtige Schönheit.«
»Ich?«
»Ja«, sagte die Frau. Ihr Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Die Haut in den Augenwinkeln war zusammengekniffen, als hätte sie jahrelang immerzu geblinzelt. Dennoch war ihr Blick klar und frisch. Die faltigen Hände, die sie mir entgegenstreckte, um den Eintopf in Empfang zu nehmen, wirkten so spröde, dass ich fürchtete, sie könnten unter dem Gewicht der Schüssel brechen. »Du bist nicht alt«, sagte sie.
»Oh«, erwiderte ich leicht verwirrt. »Ja, stimmt. Ich bin siebzehn.«
»Ich bin achtzehn«, sagte sie. Sie nahm Haltung an, als sie das sagte, und machte sich ein bisschen größer.
Christopher, der neben mir stand und das Brot austeilte, lachte leise. »Hi, Mary. Wie geht’s dir heute?«
Die Frau – Mary – hielt die Augen auf mich gerichtet, als sie antwortete. »Danke, gut. Ist das zu fassen, wie jung sie aussieht?«
Ich blickte Christopher an, der mir beruhigend zuzwinkerte. »Ja, sie sieht aus wie siebzehn.«
Ein lautes Scheppern ließ uns beide wieder zu Mary herumfahren, die ihre Schüssel mit Chili auf den Linoleumboden geworfen hatte.
»Ich bin achtzehn.« Ihre Unterlippe zitterte. »Ich bin achtzehn, ich bin achtzehn … oder vielleicht bin ich ja neunzehn. Moment, wer ist Präsident?« Ihre Worte gingen in Schluchzen über, und sie schien vergessen zu haben, wo sie war. »Wer ist Präsident?«, jammerte sie. Dann hob sie ruckartig den Kopf, sah mich mit klaren, trockenen Augen an und sagte völlig unvermittelt: »Du hast ein Herz gebrochen.«
Der Atem stockte mir in der Kehle. Sie hatte so überzeugend geklungen, und einen Moment lang konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Bemerkung bloß so dahingesagt gewesen war. Mir schien, als könnte sie in mich hineinblicken, die Schuld in mir sehen. Aber sie konnte es nicht wissen. Das war unmöglich.
Christopher ging um die Theke herum und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Na, komm, Mary«, sagte er. »Wir setzen uns hin und essen schön zu Mittag. Zusammen.«
Eine von den anderen Ehrenamtlichen – eine junge Frau, die ein paar Jahre älter war als ich und die Haare zu zwei französischen Zöpfen geflochten hatte – reichte mir einen Lappen, und wir wischten den Boden sauber.
»Mach dir ihretwegen keine Gedanken«, sagte die Zopffrau.
»Was ist denn los mit ihr?«
»Wahrscheinlich Demenz. Als ich sie das erste Mal hier erlebt hab, hat sie ständig gesagt, sie habe sich verlaufen. Hat mir damit in den Ohren gelegen, ich solle ihr helfen, die Tochter von irgendwem zu finden. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie geredet hat.«
»Die Tochter von jemandem?«, fragte ich.
»Ja … Penelope oder Priscilla oder so.« Sie wischte ein letztes Mal über den Boden und drückte ihren Lappen aus. »Sie war gar nicht zu beruhigen.«
»Wer ist Penelopes Tochter?«
Sie zuckte die Achseln. »Hat sie nicht gesagt. Vielleicht eine alte Freundin von ihr. Die Ärmste.«
Penelopes Tochter . Merkwürdig. Vielleicht hatte die Zopffrau recht mit der alten Freundin. Aber vielleicht war das alles auch einfach nur wirres Zeug.
Als nach dem Mittagessen die Stühle aufeinandergestapelt und weggeräumt waren, erfuhr ich von Christopher, dass Mary seit gut einem Monat zur Suppenküche kam und anscheinend demenzkrank war.
Irgendwie konnte ich mir gut vorstellen, wie sie sich fühlte. Dennoch nahm ich mir vor, sie nach Penelopes Tochter zu fragen, wenn ich sie das nächste Mal sah. Vielleicht konnte ich ihr ja dabei helfen, herauszufinden, wonach
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