Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
nicht, Maria«, fragte er mit bösartiger Höflichkeit, »daß Sie unsere Freundschaft in letzter Zeit schweren Belastungsproben aussetzen?« Maria schaute ihn an, zuckte die Achseln.
Sie teilte Raoul mit, wie wenig sie hatte ausrichten können. Er fragte sie nach den Gründen, sie gab ihm halbe Antworten. Es blieb ihm nichts übrig, als selber aus seinem Vater ein klares Ja oder Nein herauszuholen. Aber er hatte Angst vor dem Nein und verschob die Auseinandersetzung von einem Tag zum andern.
Er vermied jetzt Klaus Federsen, er fürchtete, der könnte ihn an das Projekt erinnern. Aber Klaus ließ den neuen Freund nicht wieder los. Er lud ihn immer dringlicher zu sich. Schließlich, da Raoul stets neue Vorwände fand, erklärte er, er habe ihm etwas besonders Interessantes zu zeigen, und ließ keine Ausrede gelten; Raoul mußte die Einladung annehmen.
Es besaß aber Klaus Federsen eine Kuriositätensammlung, und was er ihm zeigen wollte, war ein neuer Bestandteil dieser Kollektion. Ein wirklich interessantes Objekt: ein kleines Paket von Briefen, Liebesbriefen eines gewissen Fritz Regensburger an eine gewisse Emmi Wefers.
Dieser Fritz Regensburger war ein jüdischer Student, das heißt, er war ein jüdischer Student gewesen. Er hatte Beziehungen unterhalten zu einer jungen Dame, einer Malschülerin aus Düsseldorf, eben dieser Emmi Wefers. Man war dem Paar auf seine rassenschänderische Betätigung gekommen, hatte den Studenten und sein Mensch mit Schandtafeln um den Hals durch die Straßen geführt, die beiden in einem Kabarett zur Schau gestellt und ihn schließlich in ein Konzentrationslager gebracht, woselbst er sich erhängt hatte. Seine Briefe an diese Emmi Wefers, die man bei einer Haussuchung gefunden hatte, waren auf Umwegen in den Besitz Klausensgelangt, und jetzt also saßen die jungen Herren de Chassefierre und Federsen über diesen Schriftstücken, vertieft, mit geröteten Köpfen.
Ja, es waren interessante Briefe, und ihr Besitz war geeignet, auch einem so blasierten jungen Mann wie Raoul Eindruck zu machen. Der Student Fritz Regensburger hatte offenbar das ihm verbotene »arische« Mädchen sehr geliebt, er hatte seine Sünde ausgekostet, er hatte von seinem Verbrechen etwas gehabt. In den Briefen an seine Emmi schwelgte er in der Erinnerung genossener und in der Erwartung zu genießender Freuden. Er verstand es, sich auszudrücken, er rühmte den Leib seines Mädchens, er fand viele und merkwürdige Kosenamen für jede einzelne Stelle dieses Leibes und für die Genüsse, welche diese Stellen spenden konnten, so daß sich die beiden jungen Herren jetzt noch, nachdem der Student Regensburger längst ausgeglüht und Asche war, an der Darstellung seiner Lüste erregten. Was er niedergeschrieben hatte, war für die Augen eines einzigen Menschen bestimmt gewesen, einer geliebten Frau, manches wirkte befremdend und anstößig, nun fremde Augen es lasen. Klaus hatte die kostbaren Schriftstücke schon mehrere Male in allen Einzelheiten studiert, aber als er sich jetzt zusammen mit Raoul daran weiden konnte, ergötzten sie ihn von neuem, seine kleinen Augen glitzerten lüstern, er schmatzte. »So ein Schwein«, konstatierte er, »so ein gottverfluchtes Schwein. Na, wir haben es ihm gegeben. Wir haben es ihm versalzen. Aber was für sonderbare Worte das Schwein gewußt hat, einige muß man sich wirklich merken.« Raoul spürte gut das Tragische und Groteske der Lektüre, er las die Briefe mit sehr andern Empfindungen als Klaus, doch gekitzelt auch er und voll Bewunderung für das reiche Vokabular, mit welchem Wollust einen Menschen beschenken kann.
Klaus sah befriedigt, wie seine Briefe Raoul imponierten, seine Freundschaft stieg, er wollte das zeigen, und um ihm eine Gefälligkeit zu erweisen, kam er zurück auf jenes Projekt, von dem Raoul ihm gesprochen hatte. Ob man nichtendlich, fragte er, sich daranmachen solle, diese gute Idee auszuführen. Ob er nicht endlich seinesteils Schritte tun solle. Raoul, über der Lektüre der Briefe, hatte sein Unbehagen vergessen; jetzt, unversehens, sah er sich gestellt. Aber er konnte nicht mehr aus. Er nahm Anlauf, erklärte, er habe die Geschichte verschlampt, aber jetzt werde er sich ernstlich daranmachen. Er bat den Freund, nur noch ein weniges zu warten, bis er, wie verabredet, mit Monsieur Wiesener gesprochen habe. Das werde er unverzüglich tun.
Andern Tages, entschlossen, ging er zu Wiesener.
Die Unterredung verlief so ungemütlich, wie er befürchtet hatte.
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