Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Wiesener wiederholte, was er seinem Sohn schon das erstemal erklärt hatte, daß nämlich seine Idee zwar ausgezeichnet sei, daß man aber die Dinge in Ruhe reifen lassen müsse, ehe man an die Ausführung gehen könne. Als Raoul bestand und wissen wollte, wie lange es denn wohl dauern könne bis zu dieser notwendigen Reife, meinte Wiesener, man müsse warten, bis über den Mißerfolg der Frontkämpferbegegnung Gras gewachsen sei; wie lange das daure, könne man nicht vorhersagen. Wieder hatte er viele liebenswürdige Worte, und wieder stand hinter all seinem Gerede deutlich und unverrückbar das Nein.
Raoul, obwohl er eben erst vom Schicksal des Studenten Regensburger gehört hatte, kam nicht darauf, daß Wieseners Weigerung mit seinen Beziehungen zu Lea verknüpft sein könnte. Nur wenige im Ausland ahnten, mit welch schauerlicher, närrischer, bis ins letzte verfeinerter und verästelter Methodik die Nazi praktische Konsequenzen aus ihren Rassetheorien zogen. Daß zum Beispiel geschlechtliche Beziehungen zu der Vierteljüdin Lea de Chassefierre einen Durchschnittsdeutschen nicht straffällig machten, daß sie aber gleichwohl einem Prominenten wie Wiesener verdacht werden könnten, darauf kam schwerlich einer jenseits der Grenzen des Dritten Reichs. Und daß Raoul selber als Achteljude rechtlich als Vollarier galt, doch nicht als reinrassig genug für die Bekleidung gewisser Ehrenstellen, auch darauf wäre schwerlich jemand verfallen,der die praktischen Richtlinien der Nazi nicht eingehend studiert hatte. Raoul kannte also die Gründe Wieseners nicht. Er fand es feig, daß der ihm einfach aus einer Laune heraus sein billiges Verlangen abschlug.
Es bedurfte der ganzen Geschicklichkeit sowohl des Vaters wie des Sohnes, das offenbare Mißvergnügen zu verdecken, das einer am andern hatte. Wiesener suchte nach irgendeinem Mittel, den Jungen zu versöhnen. Schließlich fragte er ihn, ob er nicht Geld benötige, und drängte ihm einen blaßvioletten Tausendfrankenschein auf. Raoul nahm den Schein. Aber er sah nur das böse Gewissen, das hinter der Gabe stand, und Monsieur Wieseners Großzügigkeit vermochte die Feindseligkeit des Jungen nicht zu besiegen.
15
Parteigenosse Heydebregg und seine Sendung
Inzwischen war Konrad Heydebregg, der seit Wochen angekündigte Sondergesandte der Partei, eingetroffen. Er brachte weite Vollmachten mit, das war bekannt, doch zu welchen Zwecken und mit welchen Absichten er erschienen war, wußte man nicht. Auf der Zentralstelle der nationalsozialistischen Partei, im Pariser Braunen Haus, fürchtete man, er werde scharf revidieren. Noch unbehaglicher war die Stimmung auf der Botschaft, in der Rue de Lille. Es leistete nämlich das Auswärtige Amt ab und zu passiven Widerstand gegen die rohen, vulgären Methoden der Partei, woraufhin diese zum Entgelt in die europäischen Hauptstädte Agenten mit besonderen Vollmachten sandte. Als solcher Agent, bestimmt, den amtierenden Botschafter für einige Zeit zum reinen Schatten zu machen, erschien Konrad Heydebregg in Paris.
Die Botschaft fragte beflissen, ob sie einen Empfangsabend für ihn arrangieren dürfe. Herr Heydebregg nahm nur einen Bierabend an, und den wollte er auf einen engen Kreisbeschränkt wissen. Man lud also etwa dreißig Herren ein, neben den Spitzen der deutschen Kolonie ein paar französische Politiker, Wirtschaftler und Journalisten, auf welche man in der Rue de Lille zählen zu können glaubte.
»Nun«, fragte Wiesener Herrn von Gehrke, er stand mit ihm in einer Ecke des kleinen Saales, »haben Sie den Neuen schon berochen?« Ja, Spitzi hatte sich mit Heydebregg bereits angefreundet. Ihm persönlich gefiel der Mann ausgezeichnet; er glaubte, auch Wiesener werde gut mit ihm auskommen. Spitzi zeigte seine untadeligen Zähne, schien heiterster Laune. Wahrscheinlich war diese Laune sogar echt. Heydebregg hatte sich vor aller Augen betont liebenswürdig mit Spitzi unterhalten.
Wiesener selber war etwas beunruhigt. Es war kein gutes Zeichen, daß sich der Parteigenosse, obwohl schon vier Tage in Paris, bei ihm noch nicht gemeldet hatte. Nach dem, was Wiesener hatte in Erfahrung bringen können, war Heydebregg nicht leicht zu handhaben. Er war ein alter Kämpfer, eines der frühesten Mitglieder der Partei, ein starrer, schrulliger Kopf. Man hatte ihn im Verdacht, daß er, im Gegensatz zu fast allen andern Führern, an die nationalsozialistische Doktrin wirklich glaubte. Auch verschmähte er es, wiederum im Gegensatz zu fast
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