Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
ihr die Logik zurück. Ihr Gedächtnis hatte alles gut aufgenommen, und sie überlegte jetzt jede Einzelheit, die Wohlgemuth gesagt hatte, ihren Inhalt, ihren Tonfall, sie wog ab, was daran gut und schlecht gewesen sein mochte. Wenn sie es ernstlich darauf anlegt, dann nimmt er sie wohl bestimmt nach London mit. Wird es dort wirklich so schlimm werden? Schäbig ist ihrDoktor nicht. Sicher wird er ihr genug geben, daß sie in London nicht schlechter werden leben müssen als hier in Paris. Und für Sepp wird sich auch kaum viel ändern. Es wird werden, wie es war, bevor er die feste Stellung an den »P. N.« gehabt hat. So viel, wie er vorher für die »P. N.« geschrieben hat, kann er auch von London aus schreiben. Eine Stellung, wie er sie an der Musikalischen Akademie hier in Paris gehabt hatte, kriegt er freilich in London kaum. Dafür wird er dort mehr freie Zeit für seine eigene Produktion haben, und das wird ein Glück sein; vielleicht wird es dann auch zwischen ihnen wieder besser werden. Behelfen können wird man sich in London sicher. Der Junge wird es dort nicht leichter haben und nicht schwerer als hier. Bei seiner Sprachbegabung wird er mit dem Englischen rasch fertig werden, ein Diplom kriegt er auch in London, und zu bauen werden sie ihm dort fürs erste genausoviel geben wie hier, nämlich nichts. So ängstlich sie für Sepp und für sich selber ist, um den Jungen ist ihr keinen Augenblick bange. Der kommt durch. Daß sie ihn jetzt noch zuweilen bemuttert, tut sie mehr um ihrer selbst als um seinetwillen.
Wenn man es näher bedenkt, ist die Geschichte nur halb so schlimm. Die Nerven sind ihr durchgegangen, das ist alles. Sie ist ziemlich herunten, sie muß sich zusammennehmen. Dabei ist dieses London wahrscheinlich nur ein vages Projekt; ihr Doktor ist ein munterer Herr und spricht häufig von nebelhaften Plänen so, als wären sie Fakten. Sie wird die ganze Sache beiseite schieben, sie darf nicht mehr daran denken, sie hat in der Gegenwart Arbeit und Sorgen genug, sie braucht sich den Kopf nicht anzufüllen mit Sorgen der Zukunft.
Gott, schon drei Viertel acht. Um halb neun spätestens kommt Sepp nach Hause. Der Junge ißt heute auswärts. Eigentlich kommt ihr das gelegen; sie hat schon seit mehr als einer Woche vorgehabt, sich heute mit Sepp einen netten Abend zu machen, mit einer vertraulichen Aussprache, so wie sie es früher manchmal gehalten haben. Es ist ihr Hochzeitstag. Sepp wird wahrscheinlich nicht daran denken; aber er hat heuer den Geburtstag Hannsens nicht vergessen, vielleichtdenkt er doch daran. Sie bereitet also das Abendessen, sie hat ein bißchen mehr eingekauft als sonst, sie macht sich selber zurecht, und darüber vergehen ihr vollends die Gedanken an die Unterredung mit Wohlgemuth.
Sie wurde übrigens bequem fertig, ja sie mußte auf Sepp warten. Er war aber guter Laune, als er kam, er merkte, daß das Essen besonders schmackhaft war, er hatte sogar Blick dafür, daß Anna gut und jung aussah. Aber nicht kam er auf den Anlaß ihrer Bemühungen, darauf, daß sich heute ihre Heirat zum neunzehntenmal jährte. Seine Gedanken waren offenbar woanders. Er erklärte auch bald, er sei pressiert und müsse in einer kleinen halben Stunde wieder fort.
Anna war darauf vorbereitet, daß er nichts merken werde; sie kannte seine Zerstreutheit. Dennoch war sie enttäuscht. Obwohl sie eine allgemeine Aussprache hatte herbeiführen wollen, hatte sie nicht die Absicht gehabt, von Wohlgemuths Londoner Projekt zu reden; das, hatte sie beschlossen, sollte vorläufig ihre eigene Angelegenheit bleiben. Jetzt, da er keinen einzigen Gedanken für sie hatte, beschloß sie es anders. Jetzt wird sie ihm sein Teil abgeben an der Sorge für die Zukunft: soll gefälligst auch er sich den Kopf zerbrechen, was werden wird. Sie erzählt ihm also, sie bemüht sich, keine Sentiments einzumengen, sie berichtet ihm sachlich, daß und warum Doktor Wohlgemuth vielleicht, ja wahrscheinlich in absehbarer Zeit nach London übersiedeln wird.
Sepp hört zu, unbehaglich, unachtsam; er ist schon im Begriff gewesen, aufzubrechen, es paßt ihm nicht recht, daß sie ihn jetzt zurückhält. »So?« fragt er, wie sie fertig ist. »Nach London? Da müßtest du dir dann wohl was Neues suchen.« – »Das wird nicht so einfach sein«, meint sie. »Ach, da hab ich keine Angst«, erwidert er leichtsinnig. »Und dann ist es ja noch gar nicht sicher, und lang ist es auch noch, bis dahin, und auf alle Fälle hättest du dann fürs
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