Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Menschen davon zu befreien, daß er sich mit Politik befassen muß.
Es schien ihm, als verstehe ihn Erna Redlich wie kaum ein zweiter. Sie war noch voll von Begeisterung über seinen Händel-Aufsatz und geizte nicht mit freundschaftlicher Bewunderung.
Wahrscheinlich war es diese Stunde mit Erna, die den sonst so bescheidenen Sepp rücksichtslos genug machte, einen Entschluß auszuführen, mit dem er sich schon lange trug. Er hätte gern einmal Tschernigg und Harry Meisel bei sich gesehen, in seinem Zimmer im Hotel Aranjuez. Obwohl er wenig abhängig war von der Umgebung, so konnte er sich doch in der Emigrantenbaracke oder im Café nicht so aussprechen, wie er wollte; daß fremde Menschen im gleichen Raum waren, hinderte einen, das letzte zu sagen. Das Zimmer im Aranjuez war ein scheußliches Loch, aber es waren immerhin vier Wände, innerhalb deren man allein war, und es war sein Zimmer. Aber war es sein Zimmer? Auch Anna war dort zu Hause, und Anna konnte Tschernigg nicht leiden. Sie sah wohl, wie gut und neu seine Verse waren; doch der Urheber wurde ihr dadurch nicht weniger unsympathisch, und es verdroß sie, wenn Sepp denverlotterten Menschen ins Hotel Aranjuez einlud. Sepp, aus einem leisen Schamgefühl vor Anna, hatte es daher bis jetzt auch unterlassen. Nun aber, nach seinem Händel-Artikel, trug er keine Bedenken mehr und beschloß, Tschernigg und Harry Meisel zu sich zu bitten.
Da saß man denn in dem vollgestopften Zimmer des Hotels Aranjuez zusammen, zu vieren. Nachdem einmal die zwei bei ihrem Mann zu Gast waren, hatte Anna es sich nicht nehmen lassen, ihnen ein Abendessen vorzusetzen. Sie blieb bei Tisch höflich, aber einsilbig. Bald nach dem Essen, unter einem Vorwand, entfernte sie sich. Sepp freute sich des Alleinseins mit seinen beiden Freunden. Die kleine Reue, Anna gekränkt zu haben, verschwand bald. Er bot ihnen zu rauchen und zu trinken an, er tappte krähend herum, fühlte sich vergnügt.
Harry Meisel hatte sich in den ramponierten Wachstuchsessel gesetzt. Da saß er, prinzlich, das alte Möbel wurde zum prunkvollen Fürstensessel, nun er in ihm saß, und er hielt hochmütige, skeptische Reden. Erging sich in Betrachtungen, daß einen nichts verhaßter mache als Begabung. Talent, das verziehen einem die Menschen vielleicht gerade noch, ja zuweilen mache es einen beliebt. Aber wirkliche Begabung, die reize auf, die empöre, so was lasse das Pack nicht durchgehen. Es sei auch verständlich. Einfach durch ihre Größe erwecke wirkliche Begabung Haß. Ihre Maße paßten nirgends hinein, überall stoße sie an, einfach durch ihr Format. Da habe einer die ungeheure Idee verkündet vom Übermenschen. Was aber habe das Pack aus dem Übermenschen gemacht? Hitler. Ja, kommentierte er, was sei das Hochkommen der Nazi anders als ein geglückter Aufstand der Unbegabten gegen die Begabten. Er nahm es den Marxisten übel, daß sie diesen wichtigsten psychologischen Faktor des Faschismus übersehen hätten. »Wenn ich das Weltbild der Marxisten recht verstehe«, höhnte der Neunzehnjährige in seinem Sessel, »ist ihr letztes Ziel das, den Menschen immer wieder fünf Gramm Butter mehr aufs Brot zu schaffen. Wenn schließlich die Butter so dick aufgestrichen ist, daß sie jedemwidersteht, dann, nehmen sie an, werden die Wölfe neben den Lämmern weiden. Daran ist so viel richtig, daß heute einige im Fett ersticken, während die meisten zuwenig zu fressen haben, und ich halte es auch für möglich und für wünschenswert, daß das geändert und daß ein Zustand hergestellt wird, in dem jeder genügend viel Gramm Butter auf seinem Brot hat. Zugegeben also, von der Ökonomie verstehen die Marxisten etwas. Aber wovon sie nichts verstehen, das ist die Wissenschaft vom Menschen. Dabei ist das eine sehr einfache Wissenschaft, soweit sie für die politische Praxis benötigt wird. Man muß sich nur ein für allemal klar darüber sein, daß die weitaus größte Mehrzahl der Menschen rettungslos unbegabt ist und daß sie immer dümmer werden, in je größeren Massen man sie vereinigt. Die Marxisten strengen sich unter Aufbietung von viel List und Theorie an, zu errechnen, wie man am besten soundso viel Milliarden Tonnen Getreide produzieren und möglichst gerecht verteilen könnte. Das ist verdienstlich, es ist eine mathematische Leistung, eine agronomische, eine verkehrstechnische und wohl auch eine militärische; denn man muß viele Widerspenstige ausschalten. Aber eine politische Leistung ist es nicht, und man
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