Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
kommt.
Der Nachmittag vergeht, es wird Abend, sie hat den letzten Patienten hinausbegleitet, hat dem Doktor geholfen, die Instrumente zu säubern, wegzuschließen. Er denkt offenbar gar nicht mehr an das, was er ihr hat mitteilen wollen. Sie zieht den Mantel an. Sicher ist es nichts, und sie macht sich einfach lächerlich, wenn sie nochmals davon anfängt. Aber da fragt sie schon geradezu: »Sie wollten mir noch was sagen?«
»Ach ja«, sagt er, »richtig. Es ist nichts Dringliches, aber ich möchte, daß Sie sich beizeiten auf die Eventualität einstellen. Ich habe da einen Brief von Sir James bekommen, von James Simpson. Das ist Ihnen kein Begriff, aber jedem Zahnarzt ist es ein Begriff. James Simpson in London. Das ist wer, das ist was.Meine Herren. Sir James, das ist ein Pfeiler der Zahnheilkunde. Dieser Sir James, dieser Simpson, schreibt sich mit einem ganz großen S. Er hat mir schon früher mehrmals Klienten geschickt, viermal. Das war vor Ihrer Zeit, Frau Trautwein. Das heißt, Monsieur Luciani, der immer mal wiederkommt, der mit der Schienung unten, Sie erinnern sich, den haben wir auch von ihm geschickt bekommen.«
Anna, im Mantel, steht und wartet. Wenn er nur nicht soviel Worte machte, wenn er sich nur nicht ins Zehnte, ins Hundertste verlöre, es ist zum Auswachsen. Wenn sie jetzt nicht eingreift, dann liest er ihr wahrscheinlich noch stundenlang ein Privatissimum über die Schienung des Monsieur Luciani.
»Ja«, fragt sie, »und was ist es also mit diesem Sir James und Ihnen?« – »Es ist allerhand«, erwidert er. »Sir James fragt bei mir an, ob ich bereit wäre, mich in absehbarer Zeit mit ihm zusammenzutun, mit ihm zusammen weiterzuarbeiten. Er ist vierundsechzig. Er braucht eine jüngere Kraft. Die Engländer sind zäh, aber er allein ist seiner Klientel nicht mehr gewachsen. Sooft er nach Paris kommt, sucht er mich auf, meine Arbeiten haben ihm Eindruck gemacht, wir verstehen uns ausgezeichnet, mein trockener, herzgewinnender Humor hat es ihm angetan, und kurz und gut, er bietet mir an, mit ihm zusammenzuarbeiten. Wissen Sie, was das heißt, meine Liebe? Sie wissen es nicht. Es heißt einiges, es heißt viel, es heißt an die fünftausend Pfund im Jahr. Die Engländer haben große Zähne, sie halten auf ihre Zähne, sie lassen sich ihre Zähne was kosten. London gefällt mir nicht sehr, ich liebe das Klima nicht, ich finde auch, daß man die Engländer überschätzt, aber ich spreche ganz passabel englisch, und fünftausend Pfund: meine Herren. In Franken ist das überhaupt nicht auszudenken. Die Sache ist nicht eilig, wie gesagt, aber in zwei oder drei Monaten spätestens werde ich ihm doch wohl endgültig Bescheid geben müssen. Im Spätsommer oder im Frühherbst würde ich dann übersiedeln. Ich wollte Sie beizeiten darauf vorbereiten, liebe Frau Trautwein.Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß ich Sie mitnehmen kann; wir haben ja immer ausgezeichnet zusammengearbeitet. Aber das alles ist noch nicht spruchreif. Lassen Sie sich’s nur für alle Fälle einmal durch den Kopf gehen.«
Schon als Wohlgemuth zu sprechen anfing, hatte Anna gewußt, daß nun doch etwas Ernsthaftes kommen werde. Wie es näherrückte, wie zum erstenmal das Wort London fiel und wie er dann von dem Angebot dieses Simpson sprach, da hatte sie nur gespürt: Jetzt schwimmt also auch das fort. Überall Bruch. Hätte der mit der Setzung seiner Worte beschäftigte Doktor mehr auf ihr Gesicht geachtet, dann hätte er merken müssen, daß die sonst so resolute Frau ihr Gleichgewicht verloren hatte. Es geschah denn auch mehr mit den Lippen als mit dem Gehirn, daß sie halbwegs gelassen erwiderte: »Schön, ich werde es mir überlegen.«
Auf dem Nachhauseweg dachte es in ihr immer nur: Nach London. Das ist doch unmöglich. Und hier können wir mit den zwölfhundert Franken, die Sepp verdient, nicht auskommen, zu dritt. Das Aranjuez müssen wir unter allen Umständen aufgeben, und wie überhaupt soll es werden? Etwas Neues finde ich schwerlich. Wer einen Job hat, hält ihn mit Zähnen und Klauen fest. Es geht überall nur schlechter, alles wird abgebaut, überall Bruch. So fuhr sie nach Hause, ihre Entschlossenheit war fort, sie war angefüllt mit Sorgen vor der Zukunft.
Im Aranjuez ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Sie lag mit geschlossenen Augen, es tat wohl, um sich herum nichts zu spüren als Dunkel, und sie genoß dumpf, daß sie jetzt nicht denken mußte und nicht sprechen.
Nach zehn Minuten etwa, langsam, kehrte
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