Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
erste einmal mehr freie Zeit.«
Sie schaut ihn an. Will er sie und sich mit seiner Leichtfertigkeit forttrösten über die neue Sorge und über die Schwere der Entscheidung, die vor ihnen liegt? Aber nein. Er will offenbarüberhaupt nicht verstehen, worum es geht. Er will es nicht ernst nehmen, er will es wegschieben. Er hat seine Verabredung im Kopf und will jetzt fort. »Ja, Alte«, sagt er, schon im Mantel, und das »Alte« klingt nicht zärtlich, es klingt eher nach Gewohnheit, Verlegenheit, Ausflucht, »das überlegen wir ein andermal. Jetzt muß ich fort.«
Und damit ging er wirklich. Ihr Hochzeitstag war vorbei, er hatte nichts gemerkt, und auch von ihrer Panik und ihren Sorgen wegen Wohlgemuth hatte er nichts gemerkt. Er hatte es eilig gehabt, er hatte seine Verabredung. Was das wohl für eine Verabredung war? Man hatte ihr hinterbracht, daß er häufig mit Erna Redlich zusammen sei, der Sekretärin der »P. N.«. Sie fragte ihn nie, wohin er gehe. Oft sagte er es ihr ungefragt, doch ihr war, als sage er es ihr in letzter Zeit weniger häufig. Heute jedenfalls, wo sie ihn gebraucht hätte, ließ er sie allein.
Sie hätte besser getan, das Geld für das reichlichere Abendessen auf die Reparatur der Schreibmaschine zu verwenden, die immer dringlicher wurde. Sie zog sich aus, langsam, verwahrte die Speisenreste, wusch das Geschirr ab. Wenn wenigstens Hanns da wäre, ihr zu helfen. Der Junge war beinahe jeden Abend fort. Er lernte eine Menge unnützes Zeug. Jetzt hatte er es sich auch noch in den Kopf gesetzt, Russisch zu lernen. Wozu?
Dieser Tage muß sie wieder einmal zu Monsieur Pereyro, wegen des Vertrags über »Die Perser«. Wer dankt es ihr? »Wieviel trägt so eine Aufführung?« hat Gertrud Simmel gefragt. Bis jetzt hat Anna mehr ans Ideelle gedacht: wie die Aufführung Sepp bestätigen und aufpulvern und wie sie sein Ansehen in der fremden Stadt erhöhen wird. Jetzt, nach der Unterredung mit Wohlgemuth, wird es für sie alle auch aus finanziellen Gründen bitter notwendig, daß die Geschichte endlich was wird. Vier- bis achttausend Franken kann so etwas bringen.
Er ist also fortgegangen. Nicht einmal eine so wichtige Sache wie dieses Londoner Projekt hat ihn dazu bringen können,bei ihr zu bleiben. Er hat keine Zeit mehr für sie. Er sieht sie nicht mehr, sie ist nicht mehr für ihn da.
Wahrscheinlich verdient sie es wirklich nicht mehr, daß er sie sieht. Die Anna von früher, das war einmal. Man wird aufgefressen vom Betrieb, man kommt herunter, auch innerlich. In Deutschland hat sie das richtige Maß gehabt, dort hat sie Aug dafür gehabt, wie winzig die kleinen Dinge des Alltags waren, hier höhlen sie einen aus, füllen einen ganz an, nehmen einem den Raum weg für alles andere. Selbst wenn er zu seiner Musik zurückkehrte und den guten Willen hätte, sie daran teilnehmen zu lassen, sie könnte es nicht mehr. Ein Mindestmaß von Ruhe, von Sicherheit, von Komfort muß man haben, wenn man an Kunst soll teilnehmen können. Wenn mir der Kopf voll ist von Gedanken, wie ich es mir einrichten soll, zwischen der Präfektur und Wohlgemuth noch bei Pereyros vorbeizuspringen, dann kann ich nicht richtig abwägen, ob dieser Übergang in As-Dur Sepp wirklich allein gehört oder ob er abhängig ist von Mahler. Und wenn ich nicht von der Frage loskomme, ob ich mir lieber die neuen Schuhe kaufen soll oder den Schlafrock für Sepp, dann hab ich einfach nicht die Kraft, den Aufschwung mitzumachen in dem Schlachtbericht in den »Persern«. Sepp hat schon recht, wenn er keine Augen und kein Herz mehr für mich hat. Ich bin nicht mehr brauchbar.
Aber ich kann doch nichts dafür, das müßte er doch einsehen. Ich bin doch nicht schuld daran, daß die kleinen Dinge mir alle Zeit wegnehmen. Ich bin doch nicht schlechter geworden; es ist doch einzig und allein das Exil, das die Beziehungen zwischen mir und Sepp kaputtgeschlagen hat.
Elli Fränkel macht es sich leicht. Es ist nicht schwer, durchzukommen, wenn man allein ist. Es hat seine Vorteile, allein zu sein. Aber ich möchte es nie, nie, nie. London. Mein Englisch ist nicht schlecht. Sie werden’s auch noch billiger geben, Frau Kohn. Hab ich es noch nicht billig genug gegeben?
3
Gummi oder Kunst
Was Sepp an diesem Abend so beschäftigt hatte, waren Gedanken an einen Aufsatz, den er schreiben wollte, schreiben mußte, an einen Aufsatz, der ihm auf der Seele brannte. Er hatte nämlich an diesem Nachmittag gelesen, daß die Nazi einen Irgendwen beauftragt
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