Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
das Urschlechte, und die Nazi, das waren die »Reschoim«, die »Urbösen«. Sich dem Kampf gegen diese Urbösen widmen war ein Verdienst, sich ihm entziehen ein Verbrechen. Wenn er jetzt nach dem Vorschlag Leisegangs die »P. N.« bremste, entzog er sich dann seiner Verpflichtung gegen die jüdische Gemeinschaft?
Er entzog sich. Er entzog sich nicht. Der Kampf gegen die»Urbösen« mußte wirksam geführt werden, das heißt maßvoll. Allzu heftige Angriffe fielen nur auf die Juden selber zurück, auf diejenigen, die noch in Deutschland waren. Denn die Urbösen hatten Geiseln in Deutschland, mehrere hunderttausend Geiseln, und wenn ihnen die Emigrantenpresse zu unbequem wurde, dann ließen sie das ihre Juden entgelten.
Und da setzte jene andere Verpflichtung ein, jene zweite, die Verpflichtung gegen seine Familie. Er mußte nun einmal damit rechnen, daß sein Schwiegersohn Benedikt und seine Tochter Ida sich darauf versteiften, in Deutschland zu bleiben. Sie hatten einen gewissen Anspruch darauf, sie hatten ihrerseits Verpflichtungen. Wenn Gott seinem Schwiegersohn Benedikt den Verstand gegeben hatte, den Urbösen einen Teil ihres Raubes wieder abzujagen, und den Mut, unter ihnen auszuharren, auf vorgeschobenem Posten, dann hatte er, Gingold, kein Recht, den klugen, mutigen Jungen zurückzurufen. Und wenn Gott seiner Tochter Ida ihre schöne Stimme gegeben hatte, dann war sie verpflichtet, aus dieser Stimme zu machen, was aus ihr zu machen war, und wenn das nur mit Hilfe des Gesangspädagogen Danneberg geschehen konnte, dann mußte sie eben nebbich in Berlin bleiben. Herr Gingold war ein vorbildlicher Familienvater. Er beschimpfte seine Kinder leidenschaftlich, aber er mühte sich ebenso leidenschaftlich ab, ihren Wünschen gerecht zu werden. Der Kampf gegen die Urbösen, die Verteidigung der jüdischen Gemeinschaft war eine vornehme Pflicht, die Beschirmung seiner Tochter und seines Schwiegersohns eine ebenso vornehme. Ob er sich, wenn er die »P. N.« bremste, der ersten Pflicht entzog, war fraglich; daß er, wenn er es nicht tat, sich der zweiten Verpflichtung entzog, war gewiß.
Herr Gingold hatte den Konflikt der Pflichten gelöst. Er wird mit Gustav Leisegang weiterverhandeln. Die Einwände, die in seiner Seele wach geworden, waren abgetan.
Sie waren nicht abgetan. Am andern Morgen überfielen sie ihn mit neuer Gewalt. Er hatte die Gebetriemen um denKopf geschlungen und um den linken Arm, so daß das Herz gegen die Kapsel mit dem Glaubensbekenntnis schlug, und er stand da, das Achtzehngebet sprechend, mit geschlossenen Füßen, wie der Brauch es vorschreibt, nach Osten gewandt, in der Richtung gegen Jerusalem. Seit über vierzig Jahren, jeden Tag zweimal, immer in solcher Haltung, hatte Herr Gingold das sehr lange Gebet heruntergeraspelt, mechanisch, so rasch, daß die einzelnen Worte kaum mehr verständlich waren.
»Mein Gott, bewahre meine Zunge vor Bösem und meine Lippen, Falsches zu reden. Denen gegenüber, die mir fluchen, schweige meine Seele, und es sei mein Herz taub vor allem Äußerlichen.« So betete er in jagender Eile, als ihn Gedanken heimsuchten, betreffend Gustav Leisegang, die Nazi und ihre Vorschläge. Wenn er die Offerte der Urbösen annimmt, wird das nicht doch vielleicht sein Konto mit Gott in Unordnung bringen? Vergebens rief ihm sein Gewissen zu, daß der das Heil seiner Seele verwirkt, der während des Gebetes an anderes denkt: das rosige Gesicht Gustav Leisegangs ging ihm nicht aus dem Sinn und nicht die sanften, beredten Worte, welche der Mann zu ihm gesprochen hatte.
»Du ernährst die Lebenden mit Gnade«, betete er, »belebst die Toten in deiner großen Barmherzigkeit, stützest die Fallenden, heilst die Kranken, befreist die Gefangenen.« Das Geschrei, das seine Leute im Fall Friedrich Benjamin erhoben, hatte bewirkt, daß die Urbösen dem gefangenen Friedrich Benjamin Schreiberlaubnis gegeben hatten, er, Louis Gingold, hatte den Urbösen gezeigt, daß er ein beachtlicher Gegner war. Jetzt boten ihm die Urbösen sozusagen Waffenstillstand an. Es war kein Zweifel, dieses Angebot war ein Zeichen Gottes. Es war der Lohn dafür, daß er, Gingold, sich Friedrich Benjamins so tapfer und wirksam angenommen hatte.
»Wir danken dir«, betete er und neigte tief den ganzen Rumpf, »denn du bist der Ewige, unser Gott und der Gott unserer Väter, der Fels unseres Lebens, der Schild unseres Heils von Geschlecht zu Geschlecht.« Die Nazi schnittensich ins eigene Fleisch, wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher