Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Gesichtern die verträumte, in sich gekehrte und nicht eben gescheite Miene, welche Leute aufzusetzen pflegen beim Hören von Musik.
Auch Hanns, der zugegebenermaßen nichts von Musik verstand, hörte gut zu, den viereckigen Schädel mit den tiefliegenden Augen die meiste Zeit nach unten gesenkt. Aber Anna wußte, daß der Junge trotz seines gesammelten Gehabes seine Gedanken abschweifen ließ, daß ihm die Musik nichts sagte. So war es auch. Sepp hat doch, dachte er, über Musik so geschrieben, daß man begreifen müßte, was er damit will. Aberich kann mir nicht helfen, mir sagt der ganze Klingklang gar nichts. Das Gefiedel und Geflöte und Gepauke lenkt nur ab und nirgends hin. Man kann dabei nicht richtig denken und nicht richtig fühlen. Merkwürdig, daß erwachsene Menschen ihr ganzes Leben an solchen Klimbim verschwenden und Sinn und Vernunft dahinter finden.
Annas Sorge, daß Oskar Tschernigg und Harry Meisel die andern stören könnten, mochte übertrieben gewesen sein, aber angenehm benahmen sich die beiden nicht. Zwar sah Tschernigg nicht ganz so dreckig und speckig aus wie sonst, doch noch verkommen genug. Er rauchte heftig, warf die Stummel der Zigaretten zur Erde, steckte sich nervös und ungeschickt neue an, und es fiel ihm schwer, sich ruhig zu halten. Er schüttelte den großen Kopf, zuckte ungeduldig mit den Schultern, strich sich über die mit Schweißperlen bedeckte Glatze, verzog wohl auch das Fischmaul. Vielleicht noch mehr aber als seine Unrast störte die untadelige Ruhe Harry Meisels. Der saß prinzlich da, das schöne, hochmütige Gesicht so unbewegt, daß es auf die Dauer ablehnend und gelangweilt wirkte.
Sichtbar leidenschaftlich hingegen, bei aller Gesetztheit, hörte Leonhard Riemann zu. Schon am Morgen nach seinem Besuch bei Sepp hatte er bereut, daß er Trautweins versprochen hatte, »Die Perser« mit ihnen zusammen anzuhören. Er hätte besser getan, seine Brüsseler nicht zu verstimmen, sondern ruhig in seinem Hotelzimmer oder sonstwo »Die Perser« anzuhören, allein, ungeniert, ohne daß ihm neugierige Leute ins Gesicht gafften, um daraus abzulesen, was er nun darüber denke; das war ja schließlich das Beste am ganzen Rundfunk, daß man ungestört hören konnte. Auch setzte man sich einer unnötigen Gefahr aus, wenn man zusammen mit dem verfemten Trautwein dessen Werk anhörte. Aber nachdem er einmal ja gesagt hatte, schien es ihm unmöglich, seinen guten Freund Sepp durch einen Rückzug zu kränken. Zudem glaubte er, ohne sich’s recht einzugestehen, daß er, wenn er jetzt sein Versprechen hielt, vor dem eigenen Gewissen einen Teil derSchuld abtrage, die er trotz allem den emigrierten Musikern gegenüber verspürte. Da saß er denn hier, im Hinterzimmer dieser bedenklichen Kneipe, in fragwürdiger Gesellschaft, die Knie steil und hoch, korrekt wie stets, höchstens an der Art, wie er mit seinen Handschuhen spielte, merkte man eine gewisse Nervosität, und lauschte dem Oratorium »Die Perser«. Sehr bald aber war er nicht mehr Staatsrat, sondern nur noch Musiker, er hörte scharf zu, nicht mit dümmlich hingegebenem, sondern mit wachem, kritischem Gesicht. Er hatte seit langem keine anständige, wagemutige Musik mehr gehört, in Deutschland war dergleichen verboten, das Herz ging ihm auf. Und dann kam eine Stelle, ein gewisses Motiv, das jeden aufhorchen machten mußte, und jetzt nahmen es die Bässe auf, und jetzt die Hörner, und jetzt mußte man glauben, nun sei es erschöpft, es war aber nicht erschöpft, Sepp war der Atem nicht ausgegangen, sondern jetzt nahmen die Violinen das Motiv auf und trugen es noch höher, ins Blaue, Unendliche hinein. Und da also – und weil ein so gemessener Herr sie machte, wirkte die Geste doppelt stark –, da stand, zur Beglückung Annas, Leonhard Riemann auf, seine sonst blassen Augen leuchteten, auf Zehenspitzen ging er hinüber zu Trautwein, rührte ihm die Schulter und drückte dem Freunde fest die Hand.
Sepp selber benahm sich recht hemmungslos. Immer wieder trieb es ihn von seinem Stuhl hoch, und wenn er glücklich einmal für ein paar Minuten saß, wippte er nervös mit dem Fuß oder schaukelte beunruhigend mit den Stuhl. Er gestikulierte; mit allen Gliedern drückte er seine Verzweiflung aus über die schlechte Wiedergabe, über das Viele, was falsch oder überhaupt nicht kam. Mehr noch als die Wiedergabe störten ihn die inneren Mängel des eigenen Werks. Jetzt, da er hörte, was da war, spürte er bitter, was alles er nicht
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