Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
N.« verliert? Und was soll aus den »P. N.« selber werden? Alles ist Bruch. Dieser Sepp mit seiner verdammten Disziplinlosigkeit.
Ein Zuchthaus und ein Irrenhaus ist diese Welt und einer der Folterknecht des andern. Gingold hetzt ihn, Gingold selber wird von einem andern gehetzt, dieser andere wahrscheinlich von einem dritten.
Heilbrun ist vor seinem Haus angelangt. Der Zähler zeigt elf Franken fünfzig. Wenn er dreizehn Franken zahlte, genügte es; aber wie der Chauffeur auf seine fünfzehn Franken herausgeben will, kann er’s nicht lassen, großartig abzuwinken. Er fährt hinauf zu seiner Wohnung, öffnet, betritt, leicht seufzend, das geräumige, angenehm dämmrige Wohnzimmer mit den alten, prunkvollen Berliner Möbeln. Er freut sich darauf, in der halbdunklen Stille dieses Raumes auf dem Diwan zu liegen, allein, sich zu entspannen, zu dösen.
Doch wie er eintritt, sitzt jemand auf dem Diwan und hebt sich auch schon hoch und geht auf ihn zu und hängt ihm um den Hals, groß, schwer, unheilvoll, hilfeflehend. Und da steht auch verschüchtert und zum Weinen bereit ein vierjährigesKind in der Ecke, und: »Hilde, komm her und sag dem Großvater guten Tag«, befiehlt die Frau, mühsam ein aufkommendes Schluchzen bekämpfend, und es ist natürlich seine Tochter Greta mit ihrem Kind, und das hat gerade noch gefehlt.
Heilbrun hat seine Tochter Greta immer gern gehabt. Er hat sie getröstet, wenn ihre manchmal etwas bedenklichen Liebesabenteuer schief ausgegangen sind, und er hat sich gefreut, daß sie sich schließlich so stark und glücklich in ihren Doktor Kleinpeter verliebt hat. Dieser Kleinpeter ist ein richtiger Münchener, derb, saftig, etwas wurstig von Wesen, ein handfester, gediegener Arzt, der seine Klinik bemerkenswert gut ausgebaut hat und leitet. Es ist eine ausgezeichnete Ehe geworden, und Heilbrun hat seine Freude daran. Freilich wäre es ihm lieber, wenn sich seine Greta nicht so unbedingt an ihren Kleinpeter verloren hätte. Besorgt hat er erlebt, wie sie, die Berlinerin, läppischerweise anfing, den münchnerischen Tonfall und Dialekt ihres Mannes bis ins kleinste nachzuahmen. Es ist immer gefährlich, sein Dasein ganz auf einen Menschen zu stellen, das hat sie zu spüren bekommen, wie sie von ihm hat wegmüssen.
Da hängt sie jetzt an seinem Hals, ihr adrettes Reisekostüm steht in sonderbarem Kontrast zu ihrer inneren Auflösung, und sie erzählt wirr drauflos, unter Tränen. Auch das Kind flennt. Heilbrun war todmüde und gereizt, er hatte Mitleid mit seiner Tochter, doch beinah ebenso stark empfand er das Peinliche der Szene. Aber er wollte sich nicht gehenlassen. Zunächst galt es, zu ermitteln, was eigentlich los war. Er stellte klare, energische Fragen.
Ereignet aber hatte sich dies. Den Nazibehörden hatte es nicht genügt, daß Oskar Kleinpeter getrennt von seiner jüdischen Frau lebte. Man hatte ihn vor die Alternative gestellt, sich scheiden zu lassen oder seine Klinik aufzugeben. Greta, welche die Unternehmungslust des Vaters geerbt hatte, war in London in der Zwischenzeit nicht faul gewesen. Sie war mit ihrer etwas fülligen Damenhaftigkeit hübsch anzuschauen, sie verstand sich anzuziehen, und wenn es darauf ankam, geiztesie nicht mit Liebenswürdigkeiten. Sie hatte in London mit Hilfe eines türkischen Diplomaten erreicht, daß man ihrem Oskar eine Professur und die Einrichtung eines neuen Krankenhauses in Ankara anbot.
Nach einigem Hin und Her war denn auch Oskar Kleinpeter nach London gekommen, um die Angelegenheit mit Greta und dem Türken durchzusprechen. Er war nett und herzlich gewesen, zu ihr wie zu dem Kind. Sogar das Porträt des Vaters hatte er ihr mitgebracht, das berühmte Porträt, das seinerzeit, als Franz Heilbrun in Glanz und Ehren stand, der große Maler Max Liebermann gemalt hatte.
Oskar Kleinpeter war mehrere Tage in London geblieben. Man hatte hin und her geschwatzt, sie hatte ihn mit ihrem türkischen Diplomaten zusammengebracht, sie hatte ihm geschildert. wie großartig das Leben in Ankara werde und wie sehr er sich von neuem werde bewähren können, der Türke hatte es eindrucksvoll bestätigt, keine Minute hatte Oskar ohne das Kind Hilde sein können, und sie selber und das Kind und der Türke und Ankara und das neue Leben, alles hatte sichtlich Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte auch hin und her gefragt und geredet, hatte über das Leben in Ankara genaue Erkundigungen eingezogen, hatte den vorgeschlagenen Vertrag zehnmal durchgelesen und daran
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