Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Schuldbewußtsein vor ihr, er möchte nett zu ihr sein, und trotz ihrer Einsilbigkeit schwatzt er vergnügt drauflos. Noch warm von der Arbeit, spielt und krächzt er ihr seinen neuen Walther von der Vogelweide vor. Er weiß genau, wie diese Lieder werden müßten, aber bisher ist ihm noch keines recht geglückt. Dieses Lied endlich ist ungefähr das geworden, was er sich vorgestellt hat, es ist stolz, kühn, lustig, frech. Fertig ist es natürlich nicht, Sepp ist ein umständlicher Arbeiter, aber soviel steht fest, es ist geglückt.
Anna hört zu. Sie hat Ohr, vor allem für die Musik ihres Sepp, und genauso wie sie damals, vor ein paar Wochen, erkannt hat, daß die andern Walther-Lieder nicht »gekommen« waren, so hört sie jetzt, wie gut dieses Lied geworden ist. Auch was noch daran fehlt, hört sie. Hätte er ihr das Lied ein andermal vorgespielt, das Herz hätte sich ihr gehoben, sie hätte gejubelt. Dann freilich hätte sie Einwände vorgebrachtund Ratschläge gegeben. Vielleicht, wahrscheinlich hätte es Streit gesetzt, sie hätten sich erhitzt, aber zuletzt hätten sie sich verstanden; denn, er weiß es, niemand auf der Welt versteht besser, was an seiner Musik gut ist, als sie. Allein heute kann sie nicht so zu ihm sein wie früher, seine törichte Ablehnung ihres Londoner Planes hat sie zu tief getroffen. Sie ist kein Engel, sie kann nicht tun, als wäre nichts gewesen. Sie findet Worte der Anerkennung für das Lied, aber sie klingen matter als sonst, und sie hat nicht die Kraft, Ratschläge vorzubringen, den Empfindlichen durch Kritik zu reizen. Er drängt, sie möge sagen, was sie lahm finde, noch nicht gefüllt; doch sie will nicht, sie gibt halbe Antworten, sie ist zu müde. Seine Begeisterung sackt zusammen, er ist gekränkt.
Es trifft sich, daß der darauffolgende Tag ein Sonntag ist.
In Deutschland war der Sonntag für Anna kein angenehmer Tag gewesen; die Geschäfte waren geschlossen, Theater und Kinos überfüllt, die Dienstmädchen hatten Ausgang. Hier in Paris hatte Anna gelernt, was ein Feiertag ist. Sie kann ausschlafen, Sepp hat nur jeden zweiten Sonntag Dienst, sie hat an diesem Tag viel mehr von ihm und dem Jungen. Erst in der Emigration hat sie erfahren, was für ein Glück es ist, Zeit zu haben.
Dieser Sonntag aber wird grau für beide. Sepp ist von Natur offenherzig, es drückt ihn, daß er Anna nicht doch von der Geschichte mit Gingold erzählt hat. Er fragt sich, ob er’s nicht nachholen soll. Er möchte es tun, aber, er weiß nicht warum, er bringt einfach die Lippen nicht auf. Er macht sich allerhand vor. Nachdem er gestern geschwiegen hat, kann er nicht jetzt auf einmal damit herausrücken. Das sähe aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen, und dadurch erst gäbe er der Sache eine Wichtigkeit, die sie nun einmal nicht hat. Er schweigt also weiter, unbehaglich, und die läppische Geschichte steht zwischen ihm und ihr.
Wenn Anna in der ersten Stunde, beschäftigt mit sich selber, nicht auf seine Befangenheit und erkünstelte Munterkeit geachtet hat, allmählich merkt sie natürlich, daß was los ist. Sieführt sein sonderbares Wesen darauf zurück, daß er es nun doch bereut, ihre Londoner Pläne mit so kindischer Heftigkeit zerschlagen zu haben. Sie hat diese Reue vorausgesehen. Aber die Einsicht ist ihm diesmal wie stets zu spät gekommen. Sie hat den Bescheid an Wohlgemuth nach Möglichkeit hinausgezögert, aber schließlich hat er gedrängt, sie hat ihm ihr Nein sagen müssen, und jetzt ist nichts mehr zu machen.
Übrigens hat sich Wohlgemuth höchst anständig benommen. Nicht nur hat er ihr Gehalt bis zum Vierteljahresende zugesichert, sondern darüber hinaus eine ansehnliche Gratifikation. Er war natürlich froh, daß sie nicht nach London ging, so daß er Elli Fränkel mitnehmen durfte. In all ihrer Trübsal hat sie es beinah rührend gefunden, wie er sich bemüht hat, ihr seine Freude über ihr Nein nicht zu zeigen.
Sie hätte Sepp das alles gern erzählt und mit ihm darüber gesprochen. Aber sie fürchtet, wenn sie das Thema London erst anschneidet, dann geht ihr Unmut durch über seine unbegreiflich dumme Halsstarrigkeit, sie kennt sich, und sie kennt ihn, und es gibt nur Zank. Hin ist hin, und vorüber ist vorüber. Wozu sich gegenseitig böse Dinge sagen? Sie schluckt also ihren Groll hinunter. Freilich sich darüber noch ein freundliches Gesicht abzwingen, das kann sie nicht.
Es richtete sich aber das, was er ihr verschwieg, und das, was sie ihm nicht sagte,
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