Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
gesehen habe, könne nicht ermessen, welch ein Unterschied gewesen sei zwischen der Anna dieser letzten Jahre und der Anna von vor zwanzig Jahren. Ja, Sepp mußte den Ruhm dieser Toten verkünden, er mußte ihr ein Totenlied singen, eine Nänie, und er ließ sich gehen und schilderte das Mädchen Anna, wie sie gewesen war mit achtzehn und mit neunzehn Jahren, er schilderte ihren Körper mit Einzelheiten, von denen er dem Buben sonst niemals erzählt hätte. Er mußte es jetzt heraussagen, wie schön diese tote Frau gewesen war in der Zeit ihrer Blüte.
Hanns hörte zu, erschreckt, gelockt, unbehaglich. Da bekommt er zu hören, wie seine Mutter früher gewesen ist. Schließlich ist er ein Stück von ihr, das einzige, was von ihr bleibt, das Gefühl, daß er sie fortsetzt, ist stark in ihm, und er hat somit Anspruch darauf, zu wissen, wie sie gewesen ist. Trotzdem ist er geniert durch Sepps schamlose Beschreibung, ja er wird ganz rot und wagt nicht, dem Sprechenden ins Gesicht zu schauen.
Sepp kommt wieder auf anderes zu reden, fährt fort in einem endlosen, zusammenhanglosen Monolog. Hannsens Gedanken gleiten ab. Die Mutter hat einer unseligen Generation angehört, einer Generation, die zum Untergang bestimmt war, der Generation, die den frechen, dummen, imperialistischen Krieg gemacht hat und die jetzt in scheußlichen Krämpfen und Verrenkungen kaputtgeht. Die Mutter hat das gespürt, stärker gespürt als Sepp, und sie hat »den Löffel weggeworfen«. Hanns selber begreift nicht, wie jemand kampflos kapituliert. Aber einem aus der vorigen Generation wie der Mutter kann man schwerlich einen Vorwurf daraus machen, wenn er desertiert.
Sepp verstummte allmählich, diesmal endgültig. Die beiden hockten zusammen, am Fenster, im beginnenden Morgen.Sepp döste vor sich hin, stur, ausgeleert. Auch Hanns spürte jetzt, wie erschöpft er war. Er hatte einen erfüllten Tag hinter sich, er war schon müde nach Hause gekommen, das schreckliche Ereignis hatte ihm die Müdigkeit genommen, jetzt kehrte sie um so stärker zurück; er spürte, daß er erledigt war.
Die arme Mutter. Ein tiefes Mitleid füllte ihn. Wie schauerlich wäre es, wenn man selber einer solchen Generation angehörte. Das mit den zweihundertfünfzig Franken hätte er seinerzeit nicht machen sollen. Jetzt wird er sein Bachot doch besser aufgeben. Schwer macht es einem die verrottete alte Welt, das zu tun, wozu man geschaffen ist, das Natürliche, Vernünftige. Er selber hat Jahre verloren dadurch, daß er für sein Bachot büffelte. Sepp sollte Musik machen und schreibt statt dessen politische Artikel. Darüber ist die Mutter gestorben. Wenn wir einmal daran sind, wir werden das besser einrichten. Es wird eine Welt sein, in der es kein Exil mehr gibt. Es wird eine Welt sein, in der man keine überflüssigen Prüfungen macht und in der einem keiner sein Segelboot wegstiehlt. Die arme Mutter. Die verlorene Generation.
Die Augen fielen ihm zu. Er schlief ein, unbehaglich auf seinem Stuhl hockend. Dennoch schlief er einen gesunden, traumlosen Schlaf, einem Tagewerk entgegen, von dem er wußte, daß es nicht verloren sein wird.
3
Solidarität
Heilbrun hatte am Sonntag tief in den Vormittag hinein geschlafen; als er erwachte, schien ihm seine Lage weniger hoffnungslos. Beim Mittagessen, vor Greta, gab er sich heiter, tröstlich, väterlich und schon wieder ein bißchen großspurig.
Nachmittags, im Klub, traf er Egon Franck, und da er sich gut in Form fühlte, nahm er ihn gleich beiseite und brachte sein Anliegen vor. Egon Franck war nicht entzückt, dochnach einigem Hin und Her sagte er ihm das Geld zu, und Heilbrun war erleichtert.
Am Abend war er mit sich einig. Es war ihm leid um Sepp Trautwein, aber er hatte verboten dumm gehandelt, und wenn seine Sache schiefgegangen war, auf ihn, Heilbrun, durfte er die Folgen nicht abwälzen. Seine Verpflichtungen gegen seine Tochter Greta und deren Kind gingen vor. Als ihn Gingold anrief und sich mit betont gleichmütiger Stimme, der man die ängstliche Spannung kaum anmerkte, nach seiner Entschließung erkundigte, gelang es ihm, mit nicht sehr schlechtem Gewissen und vielen großartigen Worten ja zu sagen.
Er hatte sich darauf vorbereitet, daß man ihm auf der Redaktion wegen Sepp Trautweins Entlassung mächtig zusetzen werde, und hatte sich seine Antwort gut zurechtgelegt. So saß er denn, als wirklich die Kollegen Pfeiffer und Berger, offenbar im Namen auch der andern, anrückten und sich beunruhigt erkundigten,
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