Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Partitur zu schenken.
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Abdankung
Auf der Redaktion der »P. D. P.« hatte man von jeher das Heraufkommen des Nationalsozialismus aufgefaßt als einen Sieg der brutalen Dummheit über die menschliche Vernunft. Trotzdem traf es auch die Redakteure der »P. D. P.« wie ein Schlag, daß sich der Nürnberger Pöbel jetzt schon, nach weniger als drei Jahren, sicher genug wähnte, um der gesitteten Welt im Namen seines Aberwitzes offen den Krieg zu erklären.
Erregt sprachen die Redakteure durcheinander. Wird die Welt die Gründe begreifen, aus denen die unerhört freche Manifestation stattfand? Der Pöbel, der zur Zeit in Deutschland an der Macht war, konnte diese Macht nur halten, wenn er das Volk aufs äußerste verblendete und verdummte, so wie man seinerzeit Falken die Augen zugenäht hatte, um sie zur Einbringung der Jagdbeute zu erziehen. Das deutsche Volk mußte zu seinen schlimmen materiellen Entbehrungen noch schlimmere geistige leiden, um einem kleinen Haufen Pöbel die Sensation von Macht und Erfolg zu verschaffen. Aber wird das die Welt begreifen? Wird sie es begreifen wollen?
Bei aller Empörung erfüllte die Tatsache, daß sich die Nationalsozialisten als vornehmstes Ziel ihres Angriffs gegen die Vernunft gerade die Juden ausgesucht hatten, daß sie also in diesen die wichtigsten Vertreter der Vernunft sahen, die »Nichtarier« unter den Redakteuren der »P. D. P.« mit Stolz. Es fiel auf jeden einzelnen unter ihnen ein wenig ab von dem Glanz des Martyriums aller. Sie waren Juden mittleren Formats, keiner unter ihnen war von Bedeutung. Aber sie waren deutsche Juden, sie litten in dieser ihrer Eigenschaft als deutsche Juden, in dieser ihrer Eigenschaft wurden sie verfolgt. Wo aber in der Geschichte der neueren Welt gab es eine Gruppe, zahlenmäßig so gering, kaum eine halbe Million Menschen jeweils, die im Lauf eines einzigen Jahrhundertsder Welt soviel Reichtum an Geist geschenkt hatte wie im Lauf des neunzehnten diese Gruppe deutscher Juden? Heine und Schnitzler, Mendelssohn, Offenbach und Mahler, Karl Marx und Sigmund Freud und Albert Einstein, Wassermann und Ehrlich und Hertz und Haber, konnte man die Leistungen dieser Männer aus unserer Zivilisation wegdenken?
Soviel war gewiß: die Aufgabe der »P. D. P.« war jetzt noch größer und verantwortungsvoller geworden. Es galt energischer zu sein, schärfer, bösartiger als bisher. Wenn man nicht untergehen wollte, dann mußte man gegen die dreckigen, klobigen Waffen des Gegners selber klobige, brutale Mittel anwenden.
Am stärksten spürte das Franz Heilbrun. Wie sollte ein nachsichtiger, hellsichtiger Moralist, wie er selber es war, ein Mensch, der sich weder dumm machen lassen noch selber Dummheiten oder Brutalitäten begehen wollte, wie sollte in einer solchen Zeit ein solcher Mensch Chefredakteur einer kämpferischen Zeitung sein? Mit der Taktik des Liberalismus von vor dem Krieg war jetzt, nach den Nürnberger Gesetzen, nichts mehr anzufangen. Nicht als ob Heilbruns Optimismus tot gewesen wäre, Heilbrun war nicht mutlos: aber er fühlte sich einfach zu alt für diese Zeit.
Aus diesen Tatsachen und Gefühlen ergab sich eine einzige Konsequenz: er mußte abdanken. Das fiel ihm nicht leicht. Es bedeutete, ganz abgesehen vom Verzicht auf den gewohnten Einfluß, den seine Stellung mit sich brachte, auch Verzicht auf zahllose gewohnte Dinge, die das Leben erfreulicher machten, es bedeutete Verzicht auf einen großen Teil seines Einkommens.
Er verzichtete. Er verlangte nicht mehr viel vom Leben, und er machte seiner widerspenstigen Tochter Greta klar, daß auch sie nicht allzuviel vom Leben verlangen dürfe. Dann teilte er Berger und Pfeiffer mit, er sei seinem Amt nicht mehr gewachsen. Mit seinem Rat wolle er der »P. D. P.« auch in Zukunft gerne helfen, aber aus dem praktischen Betrieb wolle er sich zurückziehen, er wolle der Vergangenheit leben,sie sichten, Memoiren schreiben. Sie sollten sich einen jüngeren Chef suchen. Sie wiesen das ab. Er beharrte.
Die Redakteure wußten nicht, was tun. Wen sollte man zu Heilbruns Nachfolger machen? Der gegebene Mann war Friedrich Benjamin. Doch alle hatten Bedenken. Er war ein schwieriger Kollege, und er hatte sich in eine fixe Idee verrannt. Schließlich aber überwog, was für ihn sprach: sein Name, sein Schicksal, sein Fanatismus, seine großen journalistischen Fähigkeiten, sein wilder Arbeitseifer. Der einzige Peter Dülken ließ nach wie vor nicht ab von seinen Einwänden.
Man bot Friedrich
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