Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Zeitungsmeldung, Gott zu Herrn Gingold gesprochen. Hatte durch ein unmißverständliches Zeichen dargetan, daß die Schnorrer und Frechgesichter im Recht waren und er, Herr Gingold, im Unrecht. Seine These, man müsse maßvoll gegen die Urbösen vorgehen und ihre List zu überlisten suchen, hatte sich als Unsinn erwiesen, und recht hatte jener Professor Trautwein mit seinem groben, plumpen Dreschflegel und seinem Geschrei. Ach, wäre er doch bei seiner Musik geblieben, dieser Professor Trautwein, und hätte ihm nicht hineingepfuscht in sein Geschäft. Er hatte kein Glück mit der Musik, er, Herr Gingold. In Paris der Professor Trautwein, in Berlin der Gesangspädagoge Danneberg.
Und dann, jetzt, waren gar noch die Nürnberger Judengesetze über ihn hereingebrochen. Was bisher lediglich Brauch gewesen, war zum Gesetz erhoben worden, das Verfahren gegen den Gesangspädagogen Danneberg war nicht mehr Willkür, sondern geregelt durch klare Bestimmungen. Wie grausam erst wird man von nun an gegen Hindele, sein Kind, vorgehen.
Es fielen in diese Zeit die großen Feiertage der Juden, die »furchtbaren Tage«, Neujahrs- und Versöhnungsfest. In einer Zerknirschung, die ihm das Innerste um und um kehrte, stand Herr Gingold in der Synagoge, das weiße Sarggewand hatte er angelegt wie die andern alle, und schauerlich gellte ihm insOhr der Ruf des Schofar, des Widderhorns. Am Neujahrstag beschließt Gott über die Schicksale der Menschen für das kommende Jahr, eingetragen in das große Buch werden Vergünstigungen und Strafen, Credit und Debet, und am Versöhnungstag werden diese Schicksale besiegelt. Herr Gingold schlug sich die Brust beim Sündenbekenntnis, er beugte seine alten, steifen, harten Knie bei der Erinnerung an den unaussprechlichen furchtbaren Namen Gottes, sein Fleisch schmolz hin im Gefühl seiner Nichtigkeit. Er ist von Grund auf schlecht, er hat nicht nur ein schlechtes Herz, er hat auch einen schlechten Verstand, sonst hätte er sich nicht so fürchterlich verrechnen können. Und: »Nicht um unsertwillen, o Herr«, betete er, »sondern um der Verdienste unserer Väter und Vorväter willen erbarme dich.« Und: »Es sinkt der Tag«, betete er, zermürbt von Fasten, Kasteiung und Zerknirschung, da der Versöhnungstag ausging, »es sinkt der Tag, die Sonne wendet sich und sinkt, gleich schließt das Tor, halt es uns auf, das Tor, erbarme dich.«
Nachum Feinberg hatte keine Kritik mehr für seinen Herrn, nur mehr Mitleid. Er hatte jetzt herausbekommen, daß nicht, wie man zuerst vermutet hatte, Herr von Gehrke hinter Herrn Leisegang gestanden war, sondern der in letzter Zeit so viel genannte Herr Wiesener. Dieser Wiesener, hatte er erfahren, sei launisch, manchmal unerwartet großzügig, auch unterhalte er Beziehungen mit Jüdinnen. Keinesfalls konnte es schaden, sich mit diesem Herrn Wiesener ins Benehmen zu setzen.
Seit jenem herzzerreißenden Telefongespräch mit Cap Martin hatte Herr Gingold keinen Versuch mehr unternommen, an die Urbösen heranzukommen. Auch als er jetzt, den Rat seines treuen Feinberg befolgend, an Wiesener geschrieben hatte, versprach er sich nichts von diesem Brief, ja er erwartete nicht einmal Antwort. Um so mehr war er überrascht, als er die Aufforderung erhielt, sich bei Wiesener einzufinden.
Es war eine ziemliche frühe Stunde, für die er bestellt war. Frierend und schwitzend, in ängstlicher Erregung fuhr er hin. Wiesener hatte sich noch nicht angezogen; er hielt es nicht fürder Mühe wert, sich wegen dieses Mannes namens Gingold in Unkosten zu stürzen. In seinem weiten, schwarzen, kostbaren Schlafrock, ein Mittelding zwischen einem römischen Kaiser und einem Samurai, saß er vor Gingold.
Der sah Wieseners Gesicht, wie es aus dem üppigen Schlafrock männlich und infolge seines Triumphes dennoch mild und heiter herauskam, und er sagte sich: Was ist das? Das ist ja gar nicht das Gesicht eines Urbösen, das ist ein menschliches Gesicht, und jäh beschloß er, das ganze faule Geschäft und frevelhafte Unternehmen der »P. N.« zu liquidieren und vor dem Manne nicht erst lange taktische Umwege zu machen, sondern ihm reinen Wein einzuschenken. Schlimmer, als es ist, kann es nicht werden, und wenn er auch bei dem Manne nichts erreicht, so kann er vielleicht vor Gott, durch Verzicht auf die »P. N.«, einen Teil seiner übeln Affäre bereinigen.
Als ehrlicher Kaufmann, begann er, fühle er sich verpflichtet, mit Herrn Wiesener offen zu reden. Es liefen von seiten jener
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