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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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dasjenige, das er am weitesten gefördert. Das Leben und Werk dieses Mannes darzustellen, der in Wahrheit ein Repräsentant seines Jahrhunderts gewesen, glänzend begabt, ungeheuer lebensgierig und unbeschwert durch Gesinnung, das war eine Aufgabe, die ihn lockte und die ihm lag. Er fühlte sich diesem Beaumarchais verwandt; er selber, leider zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts geboren, gehörte in das achtzehnte. Er beneidete seinen Helden. Der hatte das Glück gehabt, daß sein Schicksal ihn immer auf die Seite der richtigen, das heißt der zukunftsträchtigen Gesinnung stellte; er hatte, obwohl im Kern gesinnungslos, mit Elan, ja mit Überzeugung Gesinnung zeigendürfen. Wiesener beneidete ihn sehr und tadelte heftig seine Gesinnungslosigkeit.
    Ungefähr eine Stunde diktierte er, hingegeben, mit gutem Gelingen. Dann, aufatmend, machte er Schluß. »Halten Sie mich für einen Schuft, Maria?« fragte er und nahm ihre Hand, die sie ihm, ein wenig widerstrebend, ließ. »Aber können kann ich was«, sagte er, »das müssen Sie zugeben.«
    Als Wiesener an diesem Nachmittag nach Hause kam, meldete ihm der Diener Arsène, während er ihm aus dem Mantel half: »Monsieur de Chassefierre wartet im Studio.« Wiesener, mit Mühe, hielt sein Gesicht unbewegt. Er hatte Krieg und Revolution mitgemacht, viel Auf und Ab, hatte, sooft Schicksalschläge ihn trafen, ungewöhnlichen Gleichmut bezeigt; wenn er indes seinem Jungen Raoul begegnen sollte, dann, stets von neuem, spürte er sein Herz.
    Als er ins Arbeitszimmer trat, stand Raoul de Chassefierre rauchend vor den Büchern der anschließenden Bibliothek. Maria Hegner hatte ihm ihren Stuhl ein wenig zugedreht, offenbar hatte sie sich mit ihm unterhalten. Es bestand zwischen der dreißigjährigen Maria und dem achtzehnjährigen Raoul ein kleiner Flirt, der Wiesener amüsierte.
    Raoul, bei seinem Eintritt, wandte ihm das hübsche, freche Gesicht zu. Unwillkürlich, wie sehr oft, verglich Wiesener das Antlitz des Jungen mit dem Porträt Leas, das in der Bibliothek hing. Raoul hatte die breite Stirn des Vaters, auch seine starken Augenbrauen; allein sein Kinn lief schmaler zu, und von der Mutter hatte er die kühne, fleischlose Nase. Es war ein Jungenskopf, gescheit, eigenwillig und dennoch anmutig.
    »Ich sehe, Sie haben sich einen neuen Montaigne angeschafft, Monsieur Wiesener«, sagte er. Der launische Raoul hatte sich niemals auf die Anrede festgelegt, die er seinem Vater gab, manchmal nannte er ihn Monsieur Wiesener, manchmal Papa, zuweilen sprach er französisch mit ihm, zuweilen deutsch. Heute war es Wiesener beinahe lieb, daß Raoul die förmliche Anrede bevorzugte.
    Er führte ihn ins Speisezimmer, das neben der Bibliothek lag, und schloß die Glastür. »Setz dich, mein Junge«, forderte er ihn auf. »Willst du Tee haben?« – »Nein«, erwiderte Raoul, »aber wenn Sie mir einen Apéritif anbieten, lehne ich nicht ab. Ihr weißer Porto ist trinkbar.« Wiesener ließ den Porto bringen, schenkte ein, musterte seinen Jungen, was der wohl von ihm wolle. Lang, schlank, feingliedrig saß Raoul da, den fleischlosen, ovalen Kopf mit den grüngrauen Augen frech und zierlich über die Schulter gedreht. »Da ich gerade vorbeikam«, erklärte er, »wollte ich mich ein bißchen nach Ihnen umsehen. Haben Sie keine Angst, ich will nichts Besonderes von Ihnen. Es ist pure Freundlichkeit.« Er hatte den Stuhl zurückgeschoben und ein Bein übergeschlagen; dreist, liebenswürdig schaute er den Vater auf und ab. Vom übernächsten Raum, durch die Glastür, sehr gedämpft, kam das Klappern der Schreibmaschine. »Ich störe Sie doch nicht?« fuhr Raoul fort. »Durchaus nicht«, antwortete Wiesener, seinesteils den Jungen aufmerksam, fast gierig betrachtend. Er straffte sich unmerklich. »Wie geht es dir? Erzähle.«
    Raoul erzählte gern und gut. Verwöhnt, gefallsüchtig sprach er von all und jedem und von sich selber mit Ironie. Seine Begabung und sein Urteil waren willkürlich. Versagte er in einzelnen Disziplinen, so glänzte er um so mehr in anderen. Ungewöhnlich war sein Talent für moderne Sprachen. Dieser Tage hatte er sich den Spaß gemacht, einen Artikel Wieseners ins Französische und dann zurück ins Deutsche zu übertragen. »Dabei merkte ich«, erzählte er gönnerhaft, »wie Ihr Stil durch die ständige Berührung mit uns gewonnen hat. Ihr Deutsch liest sich, als wäre es Französisch. Sie haben Ihren Heine studiert. Aber dürfen Sie denn das? Und wie lange wird das noch gut

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