Existenz

verlockend. Helena kennt mich. Sie weiß, dass ich mich über eine Gelegenheit freuen würde, das berühmte extraterrestrische Artefakt aus der Nähe zu sehen.
    Aber darum ging es nicht. Ihre aristokratischen Peers hatten bereits zahlreiche Wissenschaftler auf diese Sache angesetzt, entweder direkt bei der Artefakt-Konferenz in Washington oder bei der Auswertung der Datenströme und der Untersuchung der Frage, welche Auswirkungen sich durch eine außerirdische Flaschenpost ergaben. Für den Planeten. Für eine Gesellschaft, in der es brodelte. Und für jene ganz oben, an der Spitze einer instabilen sozialen Pyramide.
    Sie haben bereits entschieden, begriff Lacey. Diese Botschaft entnahm sie Helenas Wortwahl und Gesichtsausdruck. Die Nachricht vom Kontakt mit einer außerirdischen Zivilisation muss den Ausschlag gegeben und die führenden Familien zusammengeführt haben. Sie sind genauso durch den Wind und voller Panik wie die dämlichen Demonstranten in hundert Städten, die verlangen, das Livingstone-Objekt zu zerstören.
    Aber Zillionäre nahmen nicht an Demonstrationen teil. Für Laceys Patrizier-Kollegen gab es andere Möglichkeiten, aktiv zu werden.
    Sie haben beschlossen, sich dem Propheten Tenskwatawa anzuschließen , dachte Lacey. Ihm und seiner Abkehrbewegung .
    Sie wusste natürlich, was das bedeutete. Noch mehr Antiintellektualismus, geschürt von populistischen Politikern und Massenmedien, zumindest jenen, die von zweitausend mächtigen Familien kontrolliert wurden. Ein alter Trick: Man vereine die Menschen in Furcht vor »Fremden« – und gab es bessere Fremde als Außerirdische? Man säe Furcht, und die breite Masse folgt bereitwillig einer Elite, schwört Männern und Frauen auf dem Rücken von Pferden – oder auf Jachten – Treue und gibt ihnen jede Menge Macht.
    Dagegen hatte Lacey nichts einzuwenden. Noch vor der Begegnung mit Jason hatten ihr Eltern und Tutoren das Offensichtliche erklärt: Die Menschen sind nicht von Natur aus Demokraten. Feudalismus war die vorherrschende menschliche Gesellschaftsform in allen Epochen und Kulturen, seit die Aufzeichnung der Geschichte mithilfe von Tontafeln begann. Dies fand selbst in modernen Filmen und der Popkultur seinen Niederschlag. Millionen, die von Aufklärungsrevolutionären abstammten, verschlangen Geschichten über Könige, Zauberer und geheime Hierarchien, über Superhelden und Halbgötter, über Berühmtheiten, erhabene Familien und geerbte Privilegien.
    Diese Kampagne in den Medien reichte weit zurück. Subventionierte Weise an den Höfen der Mächtigen – von Konfuzius über Plato bis zu Machiavelli, von Leni Riefenstahl bis Hannah Niti – hatten vor der Herrschaft des Mobs gewarnt und adligen Autoritarismus gepredigt. In seinem einen Buch, das nur innerhalb der Klade zirkulierte, hatte Jason überzeugende Argumente für Neublesse oblige zusammengestellt …
    Doch gelegentlich regten sich Zweifel in Lacey. Hätten sie diese Sache auch so überzeugend gefunden, wenn sie nicht bereits Mitglieder der obersten Kaste gewesen wären, der platonischen Kruste?
    Oh, keine Frage, Menschheit und Planet wären unter der Herrschaft einer einzelnen Aristokratie besser dran gewesen als unter der von zehn Milliarden reizbaren, leicht zu erschreckenden »Bürgern«, denen nukleare und biologische Waffen zur Verfügung standen. Regierung durch das Volk war nicht der Grund, warum sie die Aufklärung liebte. Die Demokratie war eine bedauerliche und potenziell toxische Nebenwirkung der Sache, die sie wirklich schätzte.
    Die Peers glauben, Tenskwatawa als Werkzeug der Kontrolle benutzen zu kön nen. Aber seine neue Art des populistischen Konservatismus – die Abkehrbewegung – ist kein hirnloser Reflex wie in den frühen Jahren des Jahrhunderts. Kein Anfall von ländlicher Religiosität, von plutokratischen Puppenspielern leicht zu steuern. Nein, diesmal nicht. Und die Anhänger des Propheten werden sich auch nicht mit Lippenbekenntnissen ihrer Sache gegenüber zufriedengeben. Nicht mehr.
    Zwar waren nur einige Sekunden verstrichen, aber Helena reagierte mit deutlich sichtbarem Unbehagen auf Laceys nachdenkliche Pause.
    »Bist du bereit, diesen Dienst für uns zu leisten? Natürlich stellen wir dir alle nötigen Mitarbeiter und KI-Ressourcen zur Verfügung.«
    »Natürlich. Und dazu würde gehören …?«
    »Alle linguistischen Feeds und jeder von dir gewünschte Experte.«
    »Und Simulationswerkzeuge? Für Projektionsanalysen gesellschaftlicher Konsequenzen