Existenz
derselbe Gott – oder Zufall –, der sie mit Schönheit, Verstand, Reichtum und dann auch noch einem langen Leben gesegnet hatte, versagte ihr die Erfüllung anderer Wünsche. Wenn auch nur knapp. Lacey liebte die Wissenschaft, kam aber nicht mit Mathematik zurecht.
Oh, es gab durchaus Mobilität zwischen den Klassen. Ein Wissenschaftler konnte einen wichtigen Durchbruch patentieren – in den Wilden Zwanzigern war das ziemlich oft geschehen. Manchmal raffte ein korrupter Politiker genug zusammen, um es in den Ersten Stand zu schaffen. Und jedes Jahr gelang es mehreren Entertainern, mit der Unbekümmertheit von Halbgöttern hoch oben auf dem Zuckerguss der gesellschaftlichen Schichttorte zu tanzen.
Aber es gab nur wenige Aristokraten, die ihre Kaste verließen. Man konnte ein riesiges Observatorium stiften – alle hatten Lacey umschwänzelt und ihr geduldig die Instrumente erklärt, die sie bezahlt hatte –, und man bekam dafür Kometen und Planeten, die nach einem benannt wurden. Doch wenn die Astronomen voller Aufregung in ihrem Fachjargon zu schwafeln begannen und sich mit jugendlicher Überschwänglichkeit über die Essenz der Natur ausließen … Dann fühlte sich Lacey wie ein Waisenkind mit der Nase am Schaufenster. Sie konnte nicht hinein, wollte aber auch nicht weg.
Jason hatte das nie verstanden, ebenso wenig die Jungs. Über Jahrzehnte hinweg hielt Lacey das wahre Ausmaß ihrer Illoyalität geheim und stellte die Sache mit der Astronomie als Exzentrizität einer reichen Frau dar. Bis ihr Leben wieder richtig ihr gehörte.
Aber gehörte es wirklich ihr, selbst jetzt? Andere Kastenmitglieder – mit eigenen Launen und Schrullen – argwöhnten, dass sie ihr »Hobby« zu ernst nahm. Peers, die sich in den vergangenen Jahrzehnten den Ruf erworben hatten, erbarmungslos zu sein. Wie die Prinzessin, die sie jetzt von Weitem beobachtete, durch das Auge eines Papageis.
»Verzeih mir, Lacey. Du und Jason, ihr seid Hauptsäulen beim Kampf um die Privilegien der Aristokratie gewesen. So wie auch seine Eltern. Und deine. Wenn sie nicht gewesen wären … krahk … hätten wir längst das letzte Hemd verloren. Von viel zu hohen Steuern in den Ruin getrieben. Von neidischen Milliardären übertroffen.
Ein Grund mehr, warum wir dich brauchen, Lacey! Wie steuern auf einen Entscheidungspunkt zu, krohk, der über das reine Wohlergehen un serer Klasse hinausgeht. Vielleicht steht das Überleben der Spezies auf dem Spiel.«
»Ich nehme an, du meinst Tenskwatawa, den Propheten.« Lacey verbarg ihren Abscheu nicht, als sie den Namen nannte. »Ist es so weit gekommen?«
Der Papagei schüttelte sich und ging einige Schritte, sah sich auf dem Andengipfel um und plusterte seine nutzlosen Flügelstummel auf. Die dünne, kühle Luft schien ihm nicht zu behagen.
»Krr … tschi huu tschi … tschi schwie krr wrum krr … krie grogrr-kk … Schwierigkeiten machen … KRAHK!«
Lacey blinzelte. Für einige Sekunden hatte die Stimme des Papageis gar nicht nach der von Helena geklungen.
»Äh … wie bitte?«
Der Vogel schüttelte den Kopf und nieste. Dann fuhr er mit höherer Stimme und dem schweizerdeutschen Akzent fort:
»… lief es nicht immer darauf hinaus, Lacey? Ein Dutzend verrückte Generationen lang haben wir die Augen vor dem Offensichtlichen verschlossen. Krk. Von glänzenden Spielzeugen und leuchtenden Versprechen geblendet haben wir uns mit Geld, Geschäften, Investitionen und Status beschäftigt, während die Spießbürger und Eierköpfe über die wirklich wichtigen Dinge befanden.
Aber alle anderen menschlichen Zivilisationen erkannten diese Gefahr, Lacey, und begegneten dem Problem auf die gleiche Weise. Krohk. Indem sie sich jenen anvertrauten, die dazu geboren sind, ganz oben zu stehen und zu führen!
Es wird Zeit zu akzeptieren, dass all die Stämme und Nationen – unsere Vorfahren – recht kra kra kra hatten.«
Der Papagei sah inzwischen recht mitgenommen aus. Sein Gehirn, zu einer organischen Codiermaschine umfunktioniert, schützte das Gespräch vor Horchern, denen es eventuell gelungen war, die Satellitenverbindung anzuzapfen. Aber es hatte seinen Preis. Die prächtigen, blau schimmernden Federn verloren immer mehr ihren Glanz.
Lacey sah dem Vogel in die elend blickenden Augen. Auf der anderen Seite der Verbindung stand eine atemberaubend schöne blonde Prinzessin und fragte sich zweifellos, warum es ihre Zillionärskollegin mit der Exzentrizität so weit trieb, dass sie ein episch großes
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