Existenz
darauf, dass sein Herz langsamer schlug und die bunten Flecken vor seinen Augen verschwanden.
Habe ich geschrien? , fragte er sich. Zum Glück waren die Vorhänge des Fensters zugezogen, um den vom Huangpu reflektierten gleißenden Sonnenschein auszusperren. Viele andere Fenster waren mit Brettern zugenagelt. Dieses Gebäude wurde noch immer benutzt, aber die meisten Be wohner waren in der Arbeit oder Schule. Und in einem so heruntergekommenen Haus gab es sicher nicht viel KIware.
Nein, ich glaube nicht, dass ich geschrien habe. Ich denke, es ist alles in Ordnung. Hitzeflimmern und von Metall und Beton reflektiertes Sonnenlicht verhinderten vermutlich, dass ihn jemand sah – deshalb war es besser, diesen Weg am Tag zu nehmen als in der Nacht, wenn die Körpertemperatur von Hunderten infraroter Sensoren wahrgenommen werden konnte, die daraufhin Anomalie-Detektionsprogramme starten würden.
Bin hakte nun ein Bein hinter die beiden Seile und experimentierte damit, sie über die Oberschenkel gleiten zu lassen, das eine nach oben und das andere nach unten. Zuerst war es umständlich und auch schmerzhaft, aber der zähe Stoff seiner Hose hielt stand, wenn die Seile nicht zu schnell darüber hinwegrieben.
Nach und nach näherte er sich dem grauen Betondeich, der sich weit, weit nach links erstreckte, bis er außer Sicht geriet. Die große Meermauer folgte dem Verlauf der neuen Küstenlinie, bis sie den großen Sumpf erreichte, der einst die Provinz Shandong gewesen war. Auf der rechten Seite erstreckte sich die Barriere am Fluss entlang, bis zu den glücklichen Regionen weit stromaufwärts, wo der Huangpu zum Jangtse wurde und wo sich die Menschen nicht vor steigendem Wasser fürchteten. Wie viele Millionen hatten die Neue Chinesische Mauer gebaut? Und wie viele Millionen waren als Gefangene unter irgendeinem Vorwand gezwungen gewesen, zusammen mit all den anderen zu schuften, um den jüngsten Feind Chinas abzuwehren, das Meer?
Als er näher kam, behielt Bin die Barriere aufmerksam im Auge. Diese Sektion schien so weit in Ordnung zu sein, ein bisschen bröckelig, weil man die Mauer vor zwei Jahrzehnten in aller Eile errichtet hatte – nachdem die Stadt fast ganz vom Taifun Mariko überflutet worden war –, und nicht mit dem besten Material. In anderen Abschnitten gab es scheußliche Dinge: rasiermesserscharfe Drähte, für das bloße Auge kaum sichtbar, oder wärmeempfindliche Ranken mit giftigen Spitzen.
Schließlich schwang sich Bin auf die andere Seite, berührte die Mauer kaum, fiel und landete mit einem Platschen im alten Jachthafen.
Zuerst war es natürlich unangenehm, ein Gewirr aus Bootsresten und gefährlichen Kabeln, verborgen in der Brühe aus Tang und Abwässern der Stadt. Bin verlor keine Zeit, kletterte auf das erste Schiffswrack, sprang von dort aus zum nächsten und wählte einen Weg, der ihn nur selten zwang, einige Meter in der dreckigen Brühe zwischen den Resten einst stolzer Schiffe zurückzulegen.
Hier könnte man sicher das eine oder andere bergen, dachte er. Vielleicht würde er zurückkehren – wenn sein Leben weiter dem bisherigen Kurs folgte und er weder Glück noch Pech hatte. Wenn er sich auch weiterhin mehr schlecht als recht durchschlagen musste.
Bevor er über den letzten Kai kletterte, der den alten Hafen vom Meer trennte, bemerkte er eine Rettungsboje hinter dem Ruderhaus eines Wracks. Sie konnte ihm beim Schwimmen nach Hause gute Dienste leisten.
Entropie
Was ist mit »Kollapsen«? Mit Ereignissen, die zwar nicht die ganze Menschheit auslöschen, aber Millionen und vielleicht sogar Milliarden töten? Selbst wenn es Überlebende gäbe, die ein jämmerliches Dasein fristen … wären den Hoffnungen der Menschheit von da an nicht enge Grenzen gesetzt?
In diese Kategorie fallen die meisten Strafen wegen verantwortungslosen Umgangs mit der Welt. Gedankenloses Abholzen der Wälder und die Verklappung von Abfallstoffen auf hoher See. Die Vergiftung von Grundwasser und Zerstörung von Lebensräumen. Die Verschmutzung der Luft, die wir atmen. Die Klimaerwärmung, deretwegen die Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt und sich Wüsten ausbreiten.
Die meisten Tiere sind so vernünftig, nicht ihr eigenes Netz zu beschmutzen.
Andererseits: Keine andere Tierart wurde jemals in so große Versuchung geführt. Oder war so mächtig. Oder so bereit, allmählich aus ihren Fehlern zu lernen.
Hätten es intelligente Ratten, Raben, Tiger, Bären oder Kängurus besser gemacht und mehr
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