Exit
mir so zu schaffen macht. Als ob wir alle auf einem Meer von Zufällen trieben. Was ist es nur, was Cassie krank macht?«
Er schlug mit der Faust gegen die Wand. Nach meinem Gefühl hätte alles, was ich jetzt sagte, falsch aufgefaßt werden können. Andererseits war mir klar, daß Schweigen auch nicht das richtige war.
Zum Glück kam in diesem Moment ein Aufzug. Die Tür öffnete sich, und wir stiegen ein.
Ich zeigte auf den Becher in seiner Hand. »Der ist doch jetzt bestimmt kalt. Wie war's, wenn wir uns beide was Neues holten?«
Er dachte einen Augenblick nach, bevor er nickte: »Warum nicht?«
Die Cafeteria war geschlossen. Wir gingen den Korridor hinunter zu einem Umkleideraum, wo es Getränkeautomaten gab, und ließen uns je einen schwarzen Kaffee heraus. Chip kaufte sich noch zwei plastikverpackte Schokoladenkekse dazu.
Weiter den Korridor entlang gab es einen Aufenthaltsbereich mit L-förmig angeordneten orangefarbenen Kunststoffstühlen und einem niedrigen weißen Tisch, der mit leeren Kekspackungen und alten Zeitschriften bedeckt war.
Chip gähnte und ließ sich auf einen der Stühle fallen. Er packte die Kekse aus und tunkte einen davon in seinen Kaffee.
»Sehr gesund«, scherzte er, bevor er die aufgeweichte Seite des Kekses in den Mund steckte.
Ich saß ihm gegenüber und nippte an meinem Kaffee. Obwohl er scheußlich schmeckte, bewirkte er ein seltsam heimeliges Gefühl im Bauch.
»Lassen Sie uns von meiner Tochter reden«, begann er.
»Sie war absolut pflegeleicht. Sie aß gut und schlief gut. Sie schlief schon die Nächte durch, als sie erst fünf Wochen alt war. Wunderbar, würde jeder sagen, nicht wahr? Aber nach dem, was mit Chad passiert war, jagte uns das eine Höllenangst ein. Würde sie je wieder aufwachen? So wechselten wir uns ab und weckten sie regelmäßig auf, das arme Ding. Und schauen Sie nun, wie gut sie das alles wegzustecken scheint - wie sie sich immer wieder erholt. Erstaunlich, daß so etwas Kleines so stark sein kann.
Ich komme mir lächerlich vor, mit einem Psychologen über sie zu reden. Schließlich ist sie nur ein Baby. Was sollte sie für eine Neurose haben? - Doch nach all dem Streß, den sie hier gehabt hat: Bleibt da wohl was zurück? Wird sie ihr Leben lang Therapie benötigen?«
»Nein.«
»Hat das schon mal jemand untersucht?«
»Es gibt eine Reihe von Studien in dieser Richtung«, antwortete ich. »Chronisch kranke Kinder - chronisch Kranke überhaupt - entwickeln sich in der Regel besser, als die Experten vorhersagen.«
»Das heißt, ich kann mir für den Augenblick ein wenig Optimismus erlauben.«
Sein Körper straffte sich und entspannte sich wieder, wie in einer eingeübten meditativen Pose. Er ließ die Arme baumeln und streckte seine Beine aus, ließ den Kopf zurückfallen und massierte sich die Schläfen.
»Geht Ihnen das nicht auf die Nerven, den ganzen Tag Leuten zuhören? Immer nur nicken und Mitgefühl zeigen und sagen, es wird schon alles in Ordnung kommen?«
»Manchmal schon«, sagte ich, »doch man lernt die Patienten sehr schnell persönlich kennen, fühlt, daß man es mit Individuen zu tun hat. Das hilft.«
Er setzte sich aufrecht und packte den zweiten Keks aus.
»Alle Achtung, ich könnte das jedenfalls nicht. Ich hab lieber etwas Sauberes, hübsch Theoretisches vor mir.«
»Seltsam. Soziologie habe ich nie für eine exakte Wissenschaft gehalten …«
»Größtenteils ist sie das auch nicht. Doch in meinem Feld, Organisationstheorie, geht es um Modelle und überprüfbare Hypothesen. Wir leisten uns die Illusion der Berechenbarkeit.
Selbsttäuschung ist nichts Ungewöhnliches in meinem Fach.«
»Womit genau beschäftigen Sie sich denn? Managementfragen? Oder Systemanalyse?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist die angewandte Seite. Ich bin Theoretiker - ich entwickle Modelle, wie Gruppen und Institutionen funktionieren, wie die verschiedenen Komponenten einer Struktur zusammenwirken und so weiter. Klar, ich sitze im Elfenbeinturm, doch ich habe eine Menge Spaß dabei. Schon seit meinem Studium.«
»Wo war das?«
»Zuerst in Yale. Mein Diplom habe ich dann in Connecticut gemacht. Meine Doktorarbeit ist nie fertig geworden, weil ich irgendwann fand, daß die Lehre mir mehr gibt als die Forschung.«
Er gähnte wieder und blickte auf seine Uhr. »Ich schaue jetzt lieber nach den beiden Damen. Danke fürs Zuhören.«
Wir standen gemeinsam auf. Chip reichte mir eine Visitenkarte.
»Hier, meine Büronummer, falls Sie mich
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