Exit
eigenes Unglück zu rächen. Meinst du das?«
»Ja, eins von beiden oder beides gleichzeitig, vielleicht bin ich auch total auf dem Holzweg.«
»Sie hat doch das Wort ›verrückt‹ benutzt. Ahnt sie vielleicht, daß man sie unter die Lupe nimmt?«
»Möglich. Oder sie spielt nur mit mir herum. Sie steht unter extremem Druck, aber wer wäre das nicht bei einem Kind, das andauernd krank ist? Das ist das ganze Problem in diesem Fall: Für alles, was ich sehe, kann es die verschiedensten Erklärungen geben. Was mir aber nicht aus dem Kopf geht, ist, wie sie rot wurde und mit ihrem Zopf spielte, als sie von ihrer Armeezeit erzählte. Ich frage mich, ob sie die Lungenentzündung einfach erfunden hat, um eine Entlassung aus psychischen Gründen oder etwas anderes zu vertuschen, das nicht herauskommen soll. Ich hoffe, die Armee kann mich da aufklären.«
»Wie geht es dem Kind?«
»Es hat sich vollkommen erholt. Keine neurologischen Störungen erkennbar, die einen Anfall verursachen könnten. Stephanie möchte sie noch für ein oder zwei Tage unter Beobachtung halten. Die Mutter sagt, sie hätte nichts dagegen, wenn sie entlassen würde, andererseits drängt sie auch nicht darauf. Ganz die mustergültige Patientin, die alles dem Arzt überläßt. Sie behauptet auch, daß Cassie mehr spricht, seitdem ich mich mit ihr beschäftige. Sie ist sicher, daß es mit mir zu tun hat.«
»Will sie dir Honig um den Bart schmieren?«
»Dafür sind Münchhausen-Mütter berüchtigt.«
»Dann genieß es, solange du kannst. Wenn du erst etwas gegen sie gefunden hast und es ihr vorhältst, wird sie bestimmt Gift speien.«
9
Um neun Uhr an jenem Abend beschloß ich, ins Krankenhaus zurückzufahren und einen unangemeldeten Besuch zu machen. Mal sehen, wie Mrs. Charles Lyman Jones III. reagieren würde.
Das Parkhaus war fast leer. Kleine, vergitterte Lampen hingen von der Betondecke und tauchten jede zweite Parkbucht in scharfabgegrenztes, bernsteingelbes Scheinwerferlicht. Auf dem Weg zum Treppenhaus hatte ich das Gefühl, es beobachte mich jemand, doch als ich mich umschaute, war niemand zu sehen.
Ich nahm den Lift zum fünften Stock und ging unbemerkt durch die Station. Leise klopfte ich an Zimmer 505W. Keine Antwort. Ich öffnete die Tür und schaute hinein.
Die Gitter an Cassies Bett waren hochgezogen. Sie schlief. Cindy lag auf der Couch und schlief ebenfalls, mit dem Kopf nah an Cassies Füßen. Ein Arm steckte zwischen den Gitterstäben, so daß ihre Hand Cassies Bettdecke berührte.
Ich war dabei, vorsichtig die Tür zu schließen, als eine Stimme hinter mir zischte: »Sie schlafen.«
Ich drehte mich um. Vicki Bottomley starrte mich an, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Noch eine Doppelschicht?« fragte ich.
Sie verdrehte die Augen und machte Anstalten, zu verschwinden.
»Warten Sie!« sagte ich. Wir waren beide verblüfft, wie scharf meine Stimme klang.
Sie blieb stehen und wandte sich langsam um: »Was gibt's?«
»Das wollte ich Sie fragen, Vicki. Wo liegt das Problem?«
»Welches Problem?«
»Ihre Feindseligkeit mir gegenüber. Ich möchte wissen, warum.«
Sie starrte mich an, ihr Mund klappte auf und zu.
»Es ist nichts«, sagte sie schließlich, »es ist alles in Ordnung, Sie werden keine Probleme mit mir haben, ich versprech es Ihnen.«
Sie streckte den Arm aus und gab mir flüchtig die Hand, eigentlich nur die Fingerspitzen. Dann drehte sie sich um und ging.
Als ich mich den Aufzügen näherte, trat Chip Jones aus dem mittleren Lift, in jeder Hand einen Becher Kaffee.
»Na, wie geht es meinen jungen Damen?«
»Sie schlafen beide.«
»Gott sei Dank. Als ich heute nachmittag mit Cindy sprach, klang sie erschöpft.« Er hob einen der Becher und sagte: »Ich dachte, das würde sie vielleicht wieder hochbringen, aber was sie wirklich braucht, ist Schlaf.«
Ich ging mit ihm zur Privatstation zurück.
»Wir halten Sie hoffentlich nicht vom Nachhausegehen ab, Doktor?«
»Nein, nein, ich war schon zu Hause und bin wieder zurückgekommen.«
»Ich wußte gar nicht, daß Psychologen um diese Zeit noch Patienten besuchen.«
»Das tun wir auch nicht, wenn es sich vermeiden läßt.«
Er lächelte. »Wenn Cindy schon schläft, dann heißt das, daß Cassie gesund genug ist, daß sie sich ein wenig entspannen kann. Das ist schon mal gut.«
»Sie hat mir erzählt, daß sie Cassie nie allein läßt. Das muß sehr anstrengend für sie sein.«
»Unglaublich anstrengend. Am Anfang habe ich versucht, sie davon
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