Expect nothing!: Die Geschichte einer ungezähmten Frau (German Edition)
Die Angst vor dem Festgehaltensein begleitet mich seitdem.
Ein ungezähmtes Kind
Nachdem ich den Streckverband irgendwann los war, wurde beschlossen, dass ich eingeschult werden sollte. Ich war noch sehr jung und verspielt mit meinen fünf Jahren. Außerdem hatte ich nach der langen Zeit im Gips und in der Schiene einen unglaublichen Bewegungsdrang. Aber meine Mutter fand es besser, wenn ich in der Schule wenigstens ein paar Stunden am Tag ruhig sitzen bleiben würde. Das war wichtig, um die Hüfte weiter ausheilen zu lassen. Außerdem arbeitete meine Mutter vormittags im Büro der Schaufensterpuppenfabrik, und so war ich aufgeräumt. Mir schwante damals schon, dass die Schule für mich keine so gute Idee war, und weigerte mich ziemlich beharrlich, bis es meiner Mama gelang, mich unter allerlei abenteuerlichen Versprechungen hinzulocken. Sie kannte ihre Tochter in einiger Hinsicht ganz gut und wusste, was bei ihr zog: Also wurde die Schule zu einem höchst spannenden Ort erklärt, an den ich jeden Tag reisen dürfte. Denn verreisen und andere Länder sehen, das wollte ich schon als Kind. Ich war immer so neidisch, wenn meine Eltern ohne mich in den Süden gefahren sind. Dabei wollte ich so gerne mit nach Italien, weil ich dachte, die Katzen sehen dort anders aus. Deshalb habe ich sie immer angebettelt, dass sie mir unbedingt etwas mitbringen sollten von ihren Reisen, damit ich auch etwas hätte, das mich trösten konnte. Das mir das Gefühl gab, auch unterwegs gewesen zu sein.
Also wurde mir die Schule auch als tolles Reiseziel angepriesen mit Menschen aus fernen Ländern und mit anderen Hautfarben, vielleicht sogar einem schwarzen Kind, weil ich das so unglaublich schön fand. Das Kind würde ich dann kennenlernen und mich mit ihm anfreunden. Außerdem gab es ja tatsächlich die eine oder andere familiäre Hinterlassenschaft von amerikanischen GIs. Es war also möglich.
Tatsächlich war das die erste große Lüge, die ich serviert bekam, und ich war tief enttäuscht, denn – Pech gehabt – in meiner Klasse war noch nicht einmal ansatzweise ein farbiges Kind, alle nur weiß oder rosa. Und aus den Reisen in bunte, tolle Welten, in denen man etwas fürs Leben lernen konnte, wurden tödlich langweilige, graue, öde Tage, an denen das Leben regelrecht aus mir herausfloss.
Nur in einer Sache setzte ich mich durch. Ich wollte nicht auf die Schule, die bei uns in der Nähe war, sondern in die, auf der meine Cousinen und Cousins waren. Also gingen meine Mama und ich jeden Morgen, Winter wie Sommer, zu Fuß erst zu ihr zum Büro, und ich bin dann weitermarschiert. Da musste ich jeden Tag echt stapfen und stapfen, aber ich war wenigstens mit den Menschen zusammen, die ich mochte.
Als das Festbinden nicht mehr ging, war Festhalten das Prinzip, das meine Mama dann weiterhin auf mich anzuwenden versuchte, wenn ich ihr zu wild und bockig war. Wie oft saß ich eingesperrt auf dem Klo und saß die Zeit ab, bis sie ihr aufsässiges Kind wieder rausließ. Ich habe dabei nie geweint, gejammert oder getobt, sondern blieb einfach cool und habe mit Wäscheklammern gespielt. Das hat sie sicher mehr genervt, als wenn ich geheult hätte. Ich hatte einen extrem eigenen Kopf, und das Festhalten hat mich keineswegs gebrochen. Im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, es hat mich noch bestärkt in meiner Eigenheit. Auch heute noch kann ich da fast brutal sein: Ich mache das, was ich will. Egal, was andere darüber denken. Als Kleine habe ich meine Mama angeschrien: »I wui, was i wui!« Ich wollte mich immer so gerne schwarz anziehen. Meine Mutter drohte dann: »Wenn du schwarz angezogen bist, gehe ich mit dir nicht nach Schwabing!« – »Wenn ich mich aber nicht schwarz anziehen darf, dann will ich auch nicht nach Schwabing!«, kam es von mir zurück, obwohl Schwabing damals wirklich das tollste, bunteste und angesagteste Viertel in München war. Ja, ich hatte schon meinen eigenen Kopf. Ich wollte und will mich von niemandem vergewaltigen lassen. Denn so empfinde ich sinnlose Einschränkungen und Grenzen, bei denen es ja immer nur darum ging und geht: nur nicht negativ auffallen.
Meine Mutter muss sich ihrer kleinen Tochter mit ihrem Unabhängigkeitsdrang und später auch der größeren gegenüber unglaublich ohnmächtig gefühlt haben, wenn ich so darüber nachdenke. Und während es ihr immer darum ging, dass alles in Ordnung sein, die Nachbarn nicht reden und man bloß nicht auffallen sollte, tat ich natürlich genau das Gegenteil. Auch
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