Export A
eigentlich Ryan. So haben ihn seine Eltern getauft. Dass sie ihn zu Hause mit seinem Familiennamen »Bernie« ansprechen, halte ich für wenig wahrscheinlich. Für mich dagegen klingt »Ryan« wie ein Fremdwort. » LDB « (»little dirty Bernie«) oder »Burn-out« (in Bezug auf Bernies chronischen Geldmangel und damit seiner Unfähigkeit, Rauschmittel zu erwerben und zu konsumieren) sind mir dagegen durchaus geläufig.
Der Junge mit diesem Namen ist 6 Fuß lang, hellhäutig und blauäugig. Da Bernie seine Haartracht mit der Sorgfalt eines gläubigen Hindus verbirgt, habe ich ihn nur ein einziges Mal ohne Mütze gesehen, und kann daher über Farbe, Länge und Beschaffenheit seiner Haare kaum Angaben machen. Ein paar vereinzelte blonde oder dunkelblonde Strähnen fallen manchmal unabsichtlich aus seiner Kopfbedeckung bis zu den Wangenknochen. Will man ein Stück Bernie-Haut zu Gesicht bekommen, muss man lange warten. Irgendwo unter den vielen Lagen, dem Parka mit den großen Taschen, den Band-T-Shirts und den breiten Jeans verbirgt sich ein zartes Gewebe, das friert, fühlt, atmet und leidet, das erröten kann und berührt werden will.
Einmal, er war gerade dabei, sich aus seinen T-Shirts zu pellen, sah ich klar und deutlich seine Rippen schimmern, Reihe um Reihe rundherum gebogen bis zur Wirbelsäule. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke, mein Schreck und seine Scham mussten einander ertragen, bis die Zeit weiterlief und den Eindruck verwischte. Die XL -Schicht nahm wieder ihren Platz ein, und die Jungs von TOOL standen schützend vor dem, was nach 8 Monaten ohne feste Bleibe von Bernies Brustkorb übrig geblieben war. 15 Kilo Gewichtsverlust hatten ein hartes, knochiges Mahnmal der Entbehrungen hinterlassen. Schockiert begriff ich sofort, dass er mehr überlebte als lebte, dass seine »Funktionskleidung«, sein perfektioniertes Zwiebelschalenprinzip weit mehr leisten musste, als nur wind- und wasserdicht zu sein, dass sie ihn nicht nur gegen Kälte isolierte, sondern auch seine Magerkeit verbarg, und überdies die Versorgung mit allerhand Überlebensnotwendigem gewährleistete …
Hosen und Shirts mussten weit sein. So weit, dass er mehrere Lagen neuer Klamotten drunterziehen und unauffällig das Geschäft verlassen konnte. Die Taschen seines Parkas boten genügend Stauraum für geklaute Fruchtgummis und Getränkedosen. Das klappt einmal, zweimal, hundertmal und wird erst dann zum Problem, wenn man darauf angewiesen ist. Ein hungriger Magen rechnet nicht mit Supermarktangestellten, die im Kühlraum hinter den Milchkanistern nach Dieben Ausschau halten.
Markt-Verbote und Anzeigen häuften sich. Es blieben jetzt nur noch die Tankstellen und die überall erhältlichen »fat-freepigs«-Fruchtgummis, die flach und anschmiegsam und einfach zu klauen waren; kleine Schweinchen, die nicht ausliefen oder schmolzen, auf deren rosa Farbe und sattes Grinsen stets Verlass war.
Bernies Rippenbögen bezeugen sein absurdes Leben. CDs und Stereoanlagen und nichts im Magen. Sündhaft teure Jacken und Hosen und nichts zu Beißen. Snowboards und Skateboards und kein Zuhause.
Ein Dach über dem Kopf ist das einzige, was er nicht stehlen kann.
Ich erinnere mich, wie er morgens um halb 5 bei uns anklopft. Wieder einmal hat er vergeblich die zwei Stunden Fußmarsch bei minus 30 Grad Kälte auf sich genommen, um an eine andere Tür, deren Schloss längst ausgewechselt ist, zu klopfen. Wiederholtes Klingeln und Klopfen und Bitten. Die Eltern verbarrikadieren sich hinter dem dicken Holz, ihre aufgebrachten Stimmen tönen dumpf. Zwei Stunden Stapfen, um abgewiesen, um weggeschickt zu werden. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich auf den Rückweg zu machen. Er setzt die Kopfhörer auf. Cradle of Filth begleiten ihn bis zur Centennial. Vor unserer Tür schwebt ein blasses, schmales Oval in der Morgendämmerung. Ein Kindergesicht, bartlos, mit kleinem Mund und tiefblauem Blick. Halberfroren wankt mir der Junge entgegen. Aus den Kopfhörern sickern Schmerzensschreie.
Die Kopfhörer! Bernies musikalische Ohrenschützer. An einem der vielen Vormittage vor dem Backofen krönt er mich wortlos mit einem schwarz-roten Exemplar, schaut mir ins Gesicht und drückt Play. Ich bemerke noch, wie er den Mund verzieht, um ein Grinsen zu unterdrücken, dann wird es laut.
Da ich meine eigene Stimme nicht mehr hören kann, versuche ich, mit den Lippen den Bandnamen TOOL zu formen. Bernie bestätigt es mit einem Nicken. Ich höre M. J.
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