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Export A

Export A

Titel: Export A Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kränzler
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entgegen.
    Nicht lange und ich bekomme Gesellschaft. Bernies blasses Gesicht taucht aus dem Untergeschoss auf. Wir nicken uns zu. Er geht neben mir in die Hocke, bereit, die rettende Wärme des gütigen Ofenlochs zu empfangen, krempelt die Ärmel hoch und zeigt seine Handteller. Ich folge den dürren, langen Zweiglein am Ende seiner Handflächen mit den Augen, wandere seine bleichen Arme entlang, über kugelige Gelenke und spitze Ellbogen. Erst jetzt bemerke ich die schmerzende Leere, die gegen meine Rippen drückt. Wie lange liegt meine letzte Mahlzeit zurück? Habe ich vergangene Woche überhaupt irgendetwas gegessen, was man als »vernünftig« bezeichnen würde?
    Ich ziehe meine Hände aus der Wärme, stehe auf, gehe zum Kühlschrank und stelle fest, dass unser Vorrat an Ready-to-bake-Teig fast vollständig aufgebraucht ist.
    Bernie und Graham, unsere besten, aber auch am wenigsten zahlungsfähigen Stammgäste, hatten uns kurz vor Weihnachten, um einen Teil ihrer Schulden bei Josh zu begleichen, mit einer großzügigen, aufbackbaren Spende bedacht. Graham, damals noch Angestellter im »Super A Supermarket«, schleuste Bernie durch den Lieferanteneingang ins Lagerhaus.
    Gemeinsam beluden sie einen Einkaufswagen mit allem, was ihnen unter die Finger kam, und rasten mit ihrer Beute die Centennial entlang, zwei Jungs, die hinter einer wackeligen Karre her um ihr Leben sprinteten. »Josh’s house« empfing die heimkehrenden Raubritter voller Euphorie.
    Später erst stellten wir fest, dass der Wagen zu zwei Dritteln mit 30 Zentimeter langen Papprollen gefüllt war, deren Inhalt von der Firma »Pillsbury« als »Ready-to-bake Sugar Cookies« mit »Holiday-Motiv« beworben wurde. Der Supermarkt hatte sich augenscheinlich verkalkuliert. Die Nachfrage nach Fertigteig mit » Christmastree «- bzw. »Reindeer«-Motiven war in dieser Adventszeit geringer ausgefallen als im Vorjahr. Nach den Feiertagen drängelten sich Dutzende übriggebliebener Rollen ängstlich in der Lagerhalle zusammen und erwarteten ihre letzte Deportation. Bernie und Graham retteten den Teig vor dem sicheren Müllkippentod.
    In den folgenden Wochen setzte sich unser Hauptnahrungsmittel aus 6 Gramm Fett, 15 Gramm Kohlenhydraten, 8 Gramm Zucker und einem Gramm Protein zusammen. »10 Minuten vorheizen, 9 Minuten backen«, stand auf der Packung.
    Unsere Geduld endete stets weit vor der 9-Minuten-Grenze. Lieber verbrannten wir uns die Finger oder sparten uns die elendige Warterei ganz, indem wir den Teig direkt aus der Packung aßen. Das Gefühl von rohem Teig, zäh und kühl auf der Zunge, die man sich bei einem abgebrochenen Backversuch verbrannt hat; Joints, die nach Zucker schmecken, von fünf Paar klebrigen Daumen und Zeigefingern gehalten; süßlicher Marihuana-Nebel mischt sich in die unvermeidliche schwarze Rauchwolke über dem Ofen. Scheiß auf krebserregend.
    Heute Morgen kündet der Kühlschrank Zeiten der Dürre an.
    Vorsichtig schneiden Bernie und ich ein paar hauchdünne Scheiben vom Plätzchenteig. Um Josh eine kleine Chance auf etwas im Magen zu lassen, halten wir die angegebene Backzeit ein, volle 9 Minuten. 9 Minuten für Josh, um den Geruch wahrzunehmen und aufzustehen. Seine Frist läuft ab. Auf der Treppe bleibt es still. Wir werfen uns kleine, erleichterte Blicke zu.
    Hastig machen wir uns über das Blech her, lassen keinen Krümel übrig und keinen Finger unabgeschleckt.
    12 Uhr. Die Zeit will nicht vorbeigehen. Wir sollten was rauchen.
    Rauchen und auf den Abend hoffen.

19.
    Das Gefühl, das die Erinnerung an ihn wachruft, ist stiller geworden. Der Stoff hat sich abgenutzt, auf dem sein Gesicht, seine Bewegungen und alle Bilder, in denen er auftauchte, aufgetragen sind. Was einst feste Baumwolle war, ist heute zart wie Seide. Der Kragen ist ausgeleiert, unter den Achseln und an den Seitennähten klaffen erste Löcher.
    Unzählige Male bin ich in diese Erinnerung geschlüpft, habe sie manchmal tagelang nicht ausgezogen, wollte sie spüren, sicher versteckt unter der Alltagskleidung, wie eine zweite Haut. Die Vergangenheit gehörte mir allein.
    Erst jetzt, zehn Jahre später, will ich retten, was noch zu retten ist, und webe ein Tuch aus Worten, umhülle die Überbleibsel, packe sie fest ein, verlasse mich auf die Tragfestigkeit der Sätze und übergebe ihnen die Reste dessen, was mir lieb ist.

Bernie.
    Ein Name ist immer ein guter Anfang. Erst einmal den Namen eintragen, schützen, sichern. Bernie hat gleich mehrere. Sein Vorname ist

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