Export A
ich darauf, dass der Nebel fällt, dass es aufklart und die Erinnerungen wiederkehren.
Ein bisschen will ich noch weiterleben. Ich bin zu angefüllt mit Worten, um schon zu gehen.
Mir ist klar geworden, dass ich keine andere Möglichkeit mehr habe. Ich muss mich darauf konzentrieren den Worthaufen abzutragen. Es wird keine Ruhe sein in mir, bis nicht der letzte Buchstabe seine richtige Stelle gefunden hat. Ich habe keine andere Aufgabe.
Die Warum-Fragen schmerzen nicht länger. Übrig bleibt nur die Angst vor der Stille und den aufziehenden Nebeln, die mich blind machen für den Sinn des Ganzen.
Ich hielt mein Schreiben irrtümlich für eine Laune; ein Begehren, das so schnell erlöschen würde wie es aufgeflammt war. Inzwischen weiß ich, dass ich nicht schreibe, um mir Vergangenes wieder zu vergegenwärtigen. Es geht auch nicht darum, mich für die Zukunft meiner selbst zu versichern. Ich erforsche nichts. Die Geschichte ist da. Sie lässt mich weder leben noch sterben. Neben dem Schreiben duldet sie nichts. Sie fordert meine Mitarbeit bis zum letzten Punkt. Ihr Schluss wird das Ende meiner Pflichten sein.
3 1. 1 2.2000
Ich weiß nicht, aus welchem elterlichen Schrank diese Kristallgläser stammen. Irgendjemand hat sie – darauf bedacht, auch das kleinste Klirrgeräusch zu vermeiden – spitzfingrig, behutsam und höchst vorsichtig in einen mit Socken und alten Zeitschriften ausgepolsterten Rucksack gepackt. Vermutlich heute Morgen, als der Rest der Familie noch friedlich schlummerte und die Gelegenheit günstig war.
In der Centennial hausen räuberische Elstern. Sie machen reiche Beute und fliegen auf direktem Weg ins mintgrüne Vogelhäuschen zurück, wo Raubzug und Neujahr gebührend gefeiert werden.
Die Stimmung ist aufgepeitscht. Fiebrig glänzende Augenpaare versammeln sich um den Küchentisch. Ich bin in Seemannslaune.
Jeder zweite ist ein Magier, ohne Zylinder zwar, dafür mit brauner Papiertüte, aus der knisternd und mit Verschwörermiene Flaschen verschiedener Formen gezaubert werden. Ein besonders schönes Exemplar mit schwarz-goldenem Etikett, mehr Flakon als Flasche, streckt mir den Hals entgegen: 750 ml flüssiger Bernstein.
Tiefes, volles Gold. Warmes Schimmern und rötliches Glühen zwischen Glaswänden: »Canadian Club, aged 12 years«.
Ich baue eine Reihe aus sechs Kristallgläsern vor mir auf, fühle die Schwere der dickbödigen Tumbler und die Kanten des Schliffs, registriere die feinen, im Glas eingeschlossenen Luftbläschen. Dann entsichere ich den Canadian.
Kampfeslustig stehe ich da, die geladene Whiskyflasche in der Rechten und werfe einen letzten, herausfordernden Blick in die Runde, bevor ich sechsmal gleißendes Gold ins Kristall abfeuere.
Die Mutterflasche und ihre sechs Kleinen stehen vor mir stramm.
Ich fange links außen an: Linke Hand – erstes Glas, rechte Hand – zweites Glas, linke Hand – drittes Glas, rechte Hand – viertes Glas, linke Hand – fünftes Glas, rechte Hand – letztes Glas; der Rhythmus aus Greifen, Anheben, Anlegen, Runterkippen entsteht von alleine. Ich komponiere ein Trinklied im Greif-Schluck-Takt, die Gläser klirren mit ihren Sopranstimmchen und schweigen erst, als die Reihe trockengelegt ist.
Das Publikum reagiert mit begeisterten »Encore«- und besorgten »Slow down Lis’«-Rufen.
Meine Zunge fühlt sich wunderbar leicht an; enthemmt plappert sie vor sich hin. Der Canadian hinterlässt ein trockenes Mundge fühl. Ich bin bereit für mehr.
Die Party steigt ganz in der Nähe. Wir sind zu Fuß unterwegs. Mein Zeitgefühl ist längst dahin. Mit offener Jacke und sehr viel flüssigem Gold in Bauch und Blut folge ich den Jungs durch die Nacht. Wohin, weiß ich nicht.
In Alkohol eingelegte Erinnerungen sind nicht lange haltbar. Der Canadian ist ein Betrüger, der sich in Bernstein hüllt. Stunde um Stunde ertränkt er in rotgoldenem Braun und konserviert doch keine einzige; nichts bleibt fest – bis alles Flüssige schließlich in der Bluthitze verdampft, der Rausch verfliegt und die Erinnerung sich verflüchtigt.
Nur ein paar kümmerliche Reste sind mir von jener Nacht geblieben. Das Gesicht des Gastgebers, mit der gepiercten Unterlippe und einer Umrandung aus dunklen Haaren. Ein großes Haus mit mächtigen Deckenbalken. Eine steile Wendeltreppe, ein Partykeller.
Ich stehe oben auf der Treppe. Um mich wird es dunkel. Meine Füße berühren den Boden nicht mehr. Ein Poltern und ich liege ein Stockwerk tiefer, vollkommen frei von
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