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Export A

Export A

Titel: Export A Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kränzler
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erfassen, als es sonst ein Augenpaar vermag, und ich war deshalb geneigt, über die mögliche Existenz eines dritten Auges nachzudenken, ohne wirklich daran zu glauben.
    Ansonsten versuchten wir allerdings, uns gegenseitig so gut wie möglich vom Nachdenken und Grübeln abzuhalten. Dazu unternahmen wir feucht-fröhliche Spazierfahrten durch Whitehorse , auf denen wir im Wechsel das Steuer oder die Flasche übernahmen. Wir steuerten die vielen verwaisten Parkplätze an und zeichneten mit Hilfe der Handbremse kreisrunde Donuts in die zuckrigen Schneeschichten. Unsere Fahrmanöver schleuderten allerlei Gerümpel von der Rückbank und gegen die Fahrersitze. Die im Fond des Trucks liegenden Reste aus Tylers sportlicher Phase litten unter dem Geschleuder. Boxhandschuhe, ein Baseballhandschuh und -schläger, eine halbe Hockeyausrüstung, ein Basketball und anderer Krimskrams wurden wild hin und hergeworfen. Ganz zu schweigen von den Flaschen, die jede Kurve mit klingelndem Geklirre kommentierten. Der Fußraum unter dem Beifahrersitz diente schon länger als Altglascontainer.
    Mein holprig gelallter Vortrag über deutsches Recycling und das Sortieren der Flaschen nach Farbe sorgte bei Tyler für große Erheiterung.
    Am Ende fand dann das Auto den Rückweg zum Copper King.
    Wir stolperten ins braune Dunkel und ließen Guns N’ Roses wiederauferstehen. Die »Use your illusion«-Videokassette ihrer ’92er Welttournee steckte bereits im Videorekorder und wartete auf unser Play-Signal.
    Auf dem Sofa philosophierten wir über die Zylinder-Frage und versuchten uns an einer Liste fiktiver oder realer Personen, denen es unserer Meinung nach erlaubt war, eine solche Kopfbedeckung zu tragen: Dem Monopoly-Mann, Dagobert Duck, allen Zirkus­direktoren dieser Erde und natürlich dem grandiosen Slash.
    Wir waren fest entschlossen, uns ein paar Stunden Leichtigkeit zu verschaffen.
    Trotzdem konnten wir Offenbarungen und Beichten nicht ganz verhindern. Immer wieder schlich sich die schmerzhafte Realität in unsere Gespräche. Und so erzählten wir einander nach und nach, was wir vergessen wollten.

36.
    21.50 Uhr.
    Auf der Suche nach der ersten Mahlzeit des Tages durchstreife ich den »Super A«-Supermarkt. Die richtige Frühstückswahl zu treffen, ist wichtig, zumal mein grummelnder, giftig-galliger und seit einiger Zeit überaus launischer Magen nur weniges verträgt. Also lasse ich mir Zeit. Schlendere gemächlich von Gang zu Gang, greife wahllos nach bunten, knisternden Packungen, lese mir die »Nutrition facts« diverser Kraft-Foods durch, stehe unschlüssig herum, gehe ein paar Schritte, mache wieder kehrt und stelle eine Packung zurück ins Regal. Jetzt steht sie schief. Meine Finger haben kleine Knicke hinterlassen. Beschämt wegen ihres Attraktivitätsverlustes wendet sie das Etikett ab.
    Von meinem linken Arm baumelt ein grell magentafarbener Plastikkorb. Zwei maigrüne Granny Smith Äpfel rollen wie Flipperkugeln über den Korbboden. Sie werden höchstwahrscheinlich nach nichts schmecken und meine verdammte Magenschleimhaut martern, ihr Saures geben ⁠… Aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich brauche Füllstoff. Bissfestes. Kaubares.
    Seit Ewigkeiten lebe ich von Flüssigkeiten, von McDonald’s-Milchshakes mit Schuss und Trident Kaugummis. Mir ist nach reißen und schneiden und mahlen zumute, danach, meine Eck- und Schneidezähne zu benutzen. Tagsüber habe ich nicht dieses Bedürfnis. Mein Hunger ist eine Heimlichkeit, die sich nur nachts einschleicht. Ein sehnsüchtiges und ängstliches Geschöpf aus jenem unbeherrschbaren Stoff, aus dem auch meine Träume sind. Den Schutz der Dunkelheit gibt es nicht. Nur meine beschissene Hilf­losig­keit .
    Im Gang mit den Cerealien steht ein junger Typ mit weißem Kittel und versorgt die Regale. Sorgfältig füllt er die Lücken auf, komplettiert die strahlend bunten Reihen und zeigt ein hübsches, anbiederndes, zur Kaufentscheidung motivierendes Lächeln.
    Ich nähere mich meiner Stammabteilung, dem Kühlregal. Riesenhafte, fünf Liter fassende Plastikkanister hocken dicht an dicht. Wie fette, weiße Hennen drängen sie sich in die Fächer und erwarten den Kunden, der sie hochnimmt und ihnen den Kopf aufknackt.
    Bescheiden greife ich nach einer Ein-Liter-non-fat-Milchtüte. Jetzt noch zwei, drei Becher Jell-O, und meine Versorgung für die nächsten 48 Stunden ist gesichert.
    Ich halte den Becher, in dem es sachte zittert und glibbert, gegen das Neonröhrenlicht und

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