Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Export A

Export A

Titel: Export A Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kränzler
Vom Netzwerk:
Kaff. Ich lese Yukon Crossing, Pelly Crossing und Stewart Crossing, schiebe den Nagel meines Zeige­fingers am Gravel Lake vorbei, passiere Flat Creek, Rock Creek und Bear Creek und stoppe in Dawson City.
    Wo Klondike und Yukon River zusammenfließen, endet die Linie.
    Ein großes J hebt sich klar von der hellen rosaroten Stadtfläche ab. Östlich von Downtown Dawson (dicht neben dem J) entziffere ich Folgendes:
    524 km = 524 000 m = 5822,2222222222223 Schritte (à 90 cm) = 2278260,87 Füße (à 23 cm) = 18 Tage (bei 30 km/Tag) = 7–8 h Auto fahrt = 1 h 15 min Flugzeit = UNMÖGLICHKEIT, UNMÖGLICHKEIT, UNMÖGLICHKEIT.
    Mein Blick wandert zwischen den Kreuzen und der UNMÖGLICHKEIT hin und her, ziellos wie damals. Vergangene Spuren, vergangene Zeichen. Sinnlose Erinnerungen. Hier ein Kreuz, da ein Kreuz, hier ein –
    Plötzlich sehe ich es.
    Ein Muster! Eine bekannte Ordnung! Die alten Markierungen schließen sich zusammen. Vor mir enthüllt sich das versteckte Bild.
    Es tritt aus dem Schutz der Kartenfarben, wird klar, deutlich, lesbar.
    Mit dem Daumennagel ritze ich Verbindungslinien ins Papier, Kerben verknüpfen Kreuze. Das Ergebnis verblüfft mich.
    Mendenhall ist Muscida, ist Auge oder Schnauze des Großen Bären.
    Unser Haus auf der Centennial ist Dubhe, der Stern unterhalb der Schulter.
    Die Maple Street ist Merak und liegt über den Rippen.
    Die Fir Street, das ist Phekda, am Ansatz des Hinterlaufs.
    Der verdammte Fleck, am Ende der Centennial, ist Megrez.
    Und Prospector Road?
    Die Prospector ist tatsächlich Alkor Mizar, bildet also die ungefähre Mitte des Schwanzes.
    Meine Vergangenheit glotzt mich an. Ein großer Bär mit traurigen Augen. Ein Wagen, der mich Nacht für Nacht überrollt. Sie war schon lange vor mir da. Da oben, in der Dunkelheit.
    Vielleicht habe ich die Sterne ausgelöscht, einfach ausgekreuzt?
    Vielleicht sind sie, einer nach dem anderen, erloschen?
    Erst Muscida, dann Phekda, dann Dubhe, später Merak und schließlich Mizar.
    Ich hab sie ausgepustet.
    Kein Licht für mich.
    Sie leuchten nur noch zum Schein.
    Seit zehn Jahren betrachten romantisch gestimmte Menschen die Leiche des Bären, den ich erlegt habe. Ha, ha.
    Lichtreste, Ich-Reste.
    Irgendwann werden sie verbraucht sein.
    Und dann? Kommt dann das Vergessen?
    Pah. Vergessen, Vergessen, Vergessen – dass ich nicht lache!
    Nichts werde ich vergessen!
    Angefüllt mit Lachlust werde ich sein, wie jetzt werde ich mich ausschütten vor Lachen. Eine Irre, die kreischend durch den Äther treibt.
    Ich bin selbst schuld, natürlich bin ich das. Wer ist schon ohne Schuld, frage ich, wer?
    Aber ich, ich will mich reinwaschen. Zeugnis ablegen. Beichten.
    Alles genau berichten, um schreibend die Dämonen auszutreiben. Mich erklären, mich rechtfertigen und reiner als rein werden. Meine Tat, wenn nicht ungeschehen, so doch wenigstens VERSTÄNDLICHER machen ⁠…
    Deshalb musste ich den ganzen Schlamm längst vergangener Sünden aufwirbeln. Mich tief in den Sumpf hineinwühlen.
    Jetzt stehe ich da. Starre die zerfledderte Land- oder Stern- oder Was-auch-immer-es-sein-mag-Karte an, den Kopf voller Sprüche:
    Mein Leben – ein aufgebundener, steppender Bär.
    Mein Schreiben – ein Bärendienst, den ich mir selbst erweise.
    Ich bin schuld, ja. Schuld an dieser ganzen, großen Scheiße, die nicht mehr ist als ein Witz.
    Da gebärde ich mich aufs Theatralischste, überhöhe mein Dasein aufs Schwindelerregendste, leide, heule und klage ekstatisch, und wofür?
    Um schließlich, hier, auf dem kalten Boden sitzend, einen Blick in den Großen Bären, in den sich über den Nachthimmel bewegenden Plan meines Lebens zu werfen und dabei hysterisch zu lachen.
    Ich seh’s ein. Ja, ja doch, ich seh’s ein! Es gibt keinen Unterschied zwischen Erzählen und Schweigen! Meine Beichte ermöglicht weder Buße noch Absolution.
    Nur noch Ehrgeiz ist es, der mich antreibt. Ich will es beenden, die Geschichte zu Ende erzählen.
    Ich bin auch im Schreiben zu weit gegangen. Zu weit, um noch abbrechen zu können. Ich werde mich erinnern müssen.
    Ich habe Angst. Eine Scheißangst vor diesen Seiten.
    Würde gerne auf Distanz gehen.
    Zehn Jahre Distanz sind nicht genug.
    Meine Träume überbrücken sie mühelos.
    Nichts verschwindet aus dieser Welt. Die Dinge verschieben und verrücken sich nur. Sie zerfallen, formen sich neu und leben ewig weiter.
    Erinnerung. Vergessen. Schuld. Vergebung. Leben. Sterben.
    Alles einerlei.

Ostersonntag.
    Ich sitze in Tylers Trailer.

Weitere Kostenlose Bücher