Extra scha(r)f
von Readers Digest auf dem Tisch. Und auch keine vergilbten Hinweise an der Wand, die davor warnen, das Personal körperlich anzugreifen. Toll, was man mit Geld alles machen kann. Wären die öffentlichen Krankenhäuser nur halb so gemütlich, würde man sich selbst einen Straßenblock weiter noch bereitwillig in die Schlange einreihen, um sich für seine Nierentransplantation anzustellen.
Emily und ich befinden uns in einem Beratungszimmer in der Abtreibungsklinik. Die Beraterin hat sich zurückgezogen, damit wir uns bereden können. Nachdem sie uns die Vor- und Nachteile aufgezeigt hatte, wollte sie uns »etwas Raum« lassen, damit Emily »in aller Ruhe und ohne Beeinflussung von außen« eine Entscheidung treffen kann, die sie »sowohl seelisch als auch ethisch« vertreten kann. Mit anderen Worten, die arme Emily muss sich entscheiden, ob sie sich auf den OP-Tisch legt oder schreiend aus der Klinik flüchtet.
»Bist du okay?«, frage ich.
»Glaub schon. Es ist gar nicht mehr so schlimm, wenn man mal hier ist, oder? Die Klinik macht wirklich einen guten Eindruck. Weißt du, du hättest mir das Geld nicht geben müssen.«
Sie hat Recht, ich hätte es ihr nicht geben müssen, aber bissen Sie was? Ich kenne mich selbst nicht wieder. Emily macht heute einen sehr verletzlichen Eindruck. Normalerweise würde ich ihr jetzt den Rest geben, aber heute ist alles irgendwie anders. Vielleicht macht sich bei mir unerwartet ein stark unterdrückter Schwestern-Instinkt bemerkbar. Oder es ist wie immer mein schlechtes Gewissen. Letzten Endes muss ich Emily Recht geben. Wäre ich eine bessere große Schwester gewesen, hätte ich ihr womöglich etwas von meinem Erfahrungsschatz vermitteln können. So hätte ich ihr beispielsweise den genialen Rat geben können, ein Kondom zu benutzen.
Außerdem sorge ich mich um Sasha. Sie war so verrückt nach Ben, dass sie sich immer noch nicht damit abfinden kann, was für ein Schwein er ist. Dennoch rief sie heute Morgen bei mir an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Sie bot mir sogar an, sich bei Jamie für mich einzusetzen. Ich nahm ihr Angebot nicht an, obwohl mich die Ungewissheit quält, ob ich nun gefeuert bin oder nicht. Ich beschloss, morgen ins Studio zu gehen, um selbst mit Jamie zu reden.
»Ich mache mir solche Vorwürfe, weil ich meinen ganzen Frust an dir ausgelassen habe, Charlie«, sagte Sasha am Ende des Telefongesprächs. »Falls ich etwas für dich tun kann, ruf mich einfach an, ja?« Sasha lebt zwar die meiste Zeit in ihrer eigenen Welt, aber sie gibt sich gerade wirklich Mühe, um für mich da zu sein.
Und genau dasselbe werde ich für meine Schwester tun, von diesem Moment an. Ich habe nämlich beschlossen, dass sich etwas ändern muss - und zwar einiges, da es den Anschein hat, als wäre ich der nutzloseste Mensch auf der ganzen Welt. Ich werde mir mein inneres Ich vorknöpfen. Scheiß auf die künstlichen Haare und Fingernägel, auf den Selbstbräuner, der in wenigen Minuten aufgesprüht ist, auf diesen großartigen Abdeckstift von Clarins, mit dem man einfach alles überschminken kann. Ich lege keinen Wert darauf, mein Außeres zu verbessern. Es reicht, wenn ich mein Inneres verbessere.
Wer weiß, sollte Jamie mich tatsächlich feuern, vielleicht gehe ich dann nach Afrika, um dort in einer einfachen Lehmhütte zu leben und den Menschen zu zeigen, wie man Brunnen aushebt (was ich vorher natürlich erst selbst lernen muss). Doch vorerst begnüge ich mich mit einer leichter zu lösenden Aufgabe: meiner Schwester. Sie ist praktisch in den Brunnen gefallen, aber ich kann sie herausziehen.
Im Moment sieht Emily mich mit ihrem Hundeblick an, den sie sonst nur bei Dad einsetzt, und er verfehlt seine Wirkung nicht. Ich spüre ein süßes, leicht ekliges Gefühl in mir hochsteigen, und ich kämpfe nicht dagegen an. Stattdessen beuge ich mich zu Emily, und bevor ich weiß, wie mir geschieht, liegen wir uns in den Armen. Wir sind wie Sister Sledge. We Are Family. Und - wie herzerweichend - wir heulen beide Rotz und Wasser.
»Es tut mir Leid«, schluchzt Emily. »Ich war so ekelhaft zu dir, ich habe deine Unterstützung gar nicht verdient.«
»Du hast dir überhaupt nichts vorzuwerfen«, schluchze ich zurück. »Von nun an werde ich immer für dich da sein.«
Ungeheuerlich.
Aber ich meine es ernst. Außerdem muss ich zugeben, dass es ein großartiges Gefühl ist, ein besserer Mensch zu sein. Sobald das hier hinter mir liegt, nehme ich den ersten Flieger in ein
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