Extra scha(r)f
hoffentlich normal klingender Stimme - will ich mich selbst verarschen? Statt normal klinge ich wie das weibliche Pendant zu Barry White. Ruhig bleiben, ganz ruhig bleiben.
Er streckt seine Hand vor und sagt: »Ich bin Karl.«
»Und? Sind Sie an einer Mitgliedschaft interessiert?«, frage ich, wobei es mir dieses Mal gelingt, den piepsigen Unterton zu unterdrücken.
»Ja. Ich benötige neue Inspiration.«
»Da sind Sie bei uns goldrichtig. Hat Daniel Ihnen schon unser Angebot erklärt?«
»Ja. Trotzdem hätte ich noch eine Frage.«
»Schießen Sie los.«
»Wann haben Sie Feierabend?«
»Die letzten Kurse enden um -«
»Nein, wann Sie Feierabend haben?«
Wow. Der Typ ist definitiv nicht schwul, anderenfalls wäre er nicht auf ein Date mit mir aus, falls ich ihn nicht gerade völlig missverstehe. Gut, ich muss ihm eine ausweichende Antwort geben. Ich will ja nicht den Eindruck erwecken, ich sei leicht zu haben. »Um sieben«, antworte ich. Oh ja, ich bin heute Abend in Bestform.
»Kann ich Sie nach Feierabend auf einen Drink einladen?«, fragt Karl.
Ich blicke nervös zu Daniel, der in diesem Moment den Hörer auflegt. Eigentlich ist das Daniels Terrain. Gut, wie es aussieht, ist Karl nicht vom anderen Ufer, aber das macht für Daniel keinen Unterschied. Für Daniel sind nämlich alle Männer schwul - man muss sie nur aus der Reserve locken, damit sie ihr wahres Ich erkennen. Sollte ich mir jemals Daniels Tod herbeiwünschen, werde ich ihn auffordern, seine Theorie an meinem Vater zu testen.
»Wolltest du nicht bei Jennas Kurs mitmachen, Charlie?«, fragt Daniel mit einem Ich-weiß-genau-was-für-ein-Spiel-du-treibst-Lächeln.
Dieser Idiot. Jetzt bin ich doppelt gearscht. Erstens weil, wenn ich Karls Einladung annehme, er dann weiß, dass ich wegen ihm meine Pläne ändere. Zweitens weil ich nicht will, dass dieser superscharfe Typ mir zusieht, wie ich als Älteste in einem Kurs voller gelenkiger, biegsamer Sechzehnjähriger wie eine plumpe Ente herumhampele. Gut, mit vierundzwanzig habe ich noch keinen Anspruch auf einen Seniorenpass, aber trotzdem komme ich mir unter fünfzig Teenagern automatisch wie eine Oma vor. Dabei bin ich die Einzige mit Akne.
Karl sieht auf die Programmtafel für die Kurse. »Jenna Mason. Ich kenne sie. Aber ich habe sie nie tanzen sehen. Vielleicht warte ich einfach und schaue so lange zu ...«
Neiiiiiin!
»... und anschließend gehen wir was trinken.«
Nach spätestens zehn Minuten wird er weg sein.
Ich kenne ja mein Glück.
»Heute ... ist es ... richtig gut«, keucht Sasha.
Sie hat Recht. Jennas Programm ist tatsächlich gut. Jedenfalls ist es unserem Können angemessen. Sie verlangt von uns weder einen Salto in der Luft noch einen Headspin, noch einen Überschlag rückwärts - Figuren, die alle anderen scheinbar mühelos bewältigen, ohne einen Tropfen Schweiß zu vergießen, während ich mir dabei fast immer das Genick breche. Das möchte ich mir und Karl wirklich ersparen.
Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich mit Männern viel Glück habe. Ich habe zwar reichlich Erfahrungen gesammelt, aber es gab keinen einzigen, der mir wirklich etwas bedeutete. Und seit Harvey hat sich nichts Festes mehr ergeben. Als wir noch zusammen waren, hatten wir mehr Spaß an unseren SMS als an unserer Beziehung. Aber ich glaube kaum, dass sich irgendeine Beziehung - ob per SMS oder anders - mit Karl ergibt. Er spielt in einer völlig anderen Liga. Er ist durchtrainiert, unwiderstehlich und unheimlich scharf. Selbst wenn er hundertprozentig hetero sein sollte, hat Daniel wahrscheinlich immer noch bessere Chancen bei ihm. Aber man darf ja wohl noch träumen, oder?
Ich glaube, Karl schaut uns immer noch zu. Vorhin habe ich aus den Augenwinkeln registriert, dass er auf der anderen Seite des Saals hinter der Glasscheibe steht. Von da an habe ich mich darauf konzentriert, mich möglichst nicht zu überanstrengen. Schließlich habe ich mir die Haarverlängerung erst vor wenigen Tagen machen lassen, und ich weiß nicht genau, ob es nicht zu riskant ist, wenn ich zu sehr schwitze. Außerdem habe ich mich darauf konzentriert, nicht in Karls Richtung zu schauen. Absolut cool und lässig. Oh ja, das bin ich.
»Warum siehst du denn ständig zur Scheibe?«, fragt Sasha.
»Tu ich doch gar nicht«, entgegne ich und wende rasch den Blick von der Scheibe ab.
Ich habe Sasha gegenüber nichts von Karl erwähnt. Wüsste sie, dass uns ein Traumtyp beim Tanzen zusieht, würde sie noch schlimmer
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