Extra scha(r)f
Rattenfänger von Hameln. Kurz vor der Doppeltür dreht sie den Kopf nach hinten und ruft mir zu: »Sagen Sie dem Choreografen, wo er uns findet.«
»Wer ist der Choreograf?«, rufe ich zurück, aber sie ist schon durch die Tür entschwunden.
Das Foyer leert sich. Ich lasse mich auf einen Stuhl plumpsen und atme tief durch. Ich danke gerade Gott, dass das Problem gelöst ist, und genieße die relative Stille, als die automatische Tür aufschwingt und Jamie hereinkommt.
»Morgen. Alles klar?«, fragt er.
»Alles klar«, entgegne ich, während er bereits den Fahrstuhl betritt.‘
Gleich darauf übermannt mich nackte Panik.
Oberste Priorität: Sieh zu, dass du irgendwie an diese Jacqueline drankommst!.
In diesem Augenblick erscheint Rebecca wieder. »Daniel tut es Leid, aber er hat vergessen, dir das mit dem Casting für Blaize zu sagen. Er meint, du kannst ihnen ruhig den Ballettsaal oben geben, er hat alles geklärt.«
»Tja, ich habe ihnen aber bereits Studio 4 gegeben! Ich möchte, dass du sofort hochgehst und sicherstellst, dass sämtliche Jalousien heruntergelassen sind. Und sorge für etwas frischen Wind. Glaubst du, du schaffst das?«
»Jalousien und frischer Wind«, sagt Rebecca und nickt, bevor sie wieder davoneilt.
Ich lehne mich zurück und versuche, mich nicht meinen Mordfantasien, Daniel betreffend, hinzugeben. Ich muss mich jetzt erst einmal beruhigen und mir eine Lösung wegen Jacqueline einfallen lassen. Vielleicht kommt sie ja wieder. Oder vielleicht ruft sie an und erkundigt sich nach unserem Sauna-Angebot. Ist es nicht so, dass man sich in der Sauna ein paar Kilo herunterschwitzen kann? Im nächsten Augenblick klingelt das Telefon. Vielleicht hat Gott meine Bitten erhört. Vielleicht ist es Jacqueline.
Ich nehme den Hörer ab. »Guten Morgen, Sie sind verbunden mit dem Zone -«
»Stopp, stopp, ich bin‘s.«
»Hi, Sasha. Was gibt es?«
»Hör mal ... es tut mir wirklich Leid, aber ich glaube, ich muss meinen Kurs heute ausfallen lassen. Würdest du für mich einen Aushang machen?«
Meine Stimmung trübt sich ein wenig. Sasha gibt lediglich zwei Kurse in der Woche, und jetzt will sie einen davon absagen. Aber sie klingt überhaupt nicht gut. Die Arme.
»Sasha, du kannst den Kurs nicht absagen, jetzt, wo du immer größeren Zulauf bekommst«, wende ich ein.
»Das ist nicht wahr. Wir wissen beide, dass der Kurs Zeitverschwendung ist.«
»Und ob das wahr ist«, beharre ich, weil ich im Prinzip Recht habe. An Sashas letzter Aerobic-Stunde nahmen vier Leute teil, was im Vergleich zur Vorwoche eine beachtliche Steigerung von einhundert Prozent bedeutet.
»Ach, Charlie, du brauchst nicht immer nett zu mir zu sein. Gib es endlich zu«, erwidert sie mit einem lauten Stoßseufzer. »Reine Zeitverschwendung.«
Arme Sasha. Wir leiden alle an Komplexen, nicht wahr? Ich finde zum Beispiel, dass meine Nase zu groß ist, mein Bauch zu weit heraussteht, ich ständig über meine eigenen Füße stolpere und meine Haare stärker gekräuselt sind als sämtliche Afroperücken von Beyonce zusammen genommen. Aber im Vergleich zu Sasha habe ich keine Komplexe. Keinen einzigen. Würde man Sasha bitten, ihre Fehler und Schwächen auf ein Blatt Papier zu schreiben, würde ein ganzer Roman daraus entstehen - und kein dünner. Total verrückt. Wie kann eine so hübsche, liebenswerte, erstklassige Tänzerin - man stelle sich Justin Timberlake mit Brüsten vor - so wenig Selbstbewusstsein haben?
Mittlerweile habe ich die Hoffnung aufgegeben, dass Sasha jemals als Tänzerin den Durchbruch schafft, weil in dieser Branche Selbstbewusstsein wichtiger ist als Taktgefühl. Zum Beispiel Jenna. Jenna ist unbestritten eine gute Tänzerin, aber vor allem hält sie sich selbst für super großartig, und allein das zählt. Direkt nach ihrer Ausbildung an der Tanzakademie ging sie mit Boyzone auf Tour, machte in einem Kylie-Video mit und bei irgendeinem Auftritt von Will Young ... Und so ging es munter weiter. Inzwischen ist Jenna nicht nur Backgroundtänzerin, sie entwirft sogar Choreografien für die Popstars - und zusätzlich findet sie die Zeit, während der Woche ihre sechs überlaufenen Kurse im Zone zu geben.
Sasha hingegen sammelte direkt nach ihrer Tanzausbildung nur unangenehme Erfahrungen bei Castings. Sie bekam eine Absage nach der anderen, während Tänzer, die nicht einmal halb so begabt waren wie sie, engagiert wurden, indem sie einfach mit der richtigen Haltung auftraten - Brust heraus, Schultern zurück,
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