Extraleben - Trilogie
Zug holen. Also schläft er links von mir, im vom Fenster maximal entfernten Bett. Er zieht die Nase hoch.
»Ja?«
»Erzähl mal was.«
»Bist du bescheuert? Warum?«
»Einfach so, erzähl halt noch was, so als Schleuse, damit ich besser pennen kann.«
Nochmal Rascheln, widerwilliges Stöhnen. Kurze Pause.
»Also, wusstest du, dass der 6502-Prozessor ...«
» nicht so was, Mann.«
»Was denn? «
Er klingt echt bepisst, wahrscheinlich war er schon halb weggedöst, die alte Schlafbarbie. Bei mir tut sich trotz der ganzen Biere nichts, es flimmert vor den Augen, als ob fünf Uhr morgens wäre.
»Irgendeine echte Geschichte, wie am Lagerfeuer oder so.«
Natürlich völliger Schwachsinn. Klar haben wir auf unseren Forschungsreisen auch mal Feuer gemacht, mit einer Lupe und so, aber nur, um zu beweisen, dass wir mindestens so survivalmäßig drauf sind wie Rüdiger Nehberg. In Wirklichkeit haben wir uns die besten Geschichten an einem Lagerfeuer namens Bildschirm erzählt. Aber irgendwie hilft Analoges besser beim Einschlafen.
»Wie am Lagerfeuer, hm?«
Die Möglichkeit, dass jemand einem seiner Monologe lauscht, und sei es auch nur, um schneller einschlafen zu können, holt ihn aus dem Halbschlaf zurück.
»Kennst du die Story vom Dyatlov-Pass?«
»Hat das was mit Tunguska zu tun?«
In Tunguska, Sibirien, ist 1908 ja ein Meteor runtergekommen und hat über Hunderte von Kilometern alles plattgemacht. Manche Leute denken bis heute ...
»Nein, mit dem UFO-Ereignis in Tunguska hat das nichts zu tun«, fährt Mulder dazwischen. Dann zieht er nochmal die Nase hoch - klingt nach einem nahenden Klimaanlagen-Schnupfen und legt los.
»Also,1959 brechen neun russische Skilangläufer zu einer Tour in den Ural auf. sieben Männer und zwei Frauen. Ihr Anführer ist ein Mann namens Igor Dyatlov; er soll sie zu einer Loipe namens Kholat Syakhl führen, was übersetzt so viel bedeutet wie Berg der Toten ...«
Warum er immer so dick auftragen muss?
»Komm schon, spar dir die Folklore.«
»Wenn der Berg doch so hieß!«, meckert Nick, »und überhaupt: Ich will gleich kein Gejammer hören, wenn du überhaupt nicht mehr schlafen kannst. Die Geschichte ist nämlich echt hart.«
Härter als der heutige Tage kann sie nicht sein.
»Ja, ja.«
»Also, auf dem Weg nach oben werden sie von schlechtem Wetter überrascht, kommen vom Weg ab und entscheiden sich dafür, die Sache auszusitzen. Sie schlagen ihr Lager auf - zu diesem Zeitpunkt ist noch alles in Butter. Einige der Skifahrer schießen sogar ein paar Fotos von der Landschaft. Dann gehen sie schlafen.«
Nick macht eine seiner berühmten Kunstpausen und senkt die Stimme für das Finale.
»Mitten in der Nacht stürzen auf einmal alle aus ihren Zelten; sie haben es so eilig, dass sie nicht einmal die Reißverschlüsse öffnen, sondern die Stoffbahnen einfach zerfetzen. Draußen sind minus 30 Grad, und alle tragen nur Unterwäsche. Ein paar aus der Gruppe kommen noch einen Kilometer weit, doch alle sterben innerhalb kürzester Zeit.«
Ein Anflug von Gänsehaut kriecht meinen Nacken hoch.
»Krass.«
»Wart's ab: Die Sache wird natürlich untersucht, und es kommt raus, dass fünf der Skiläufer einfach erfroren sind, ohne Anzeichen von Gewaltanwendung. So weit, so klar. Anders sieht es bei den restlichen vier aus, die weit weg von ihren Kollegen gefunden wurden: Zwei von denen hatten massive innere Verletzungen, als ob sie vor ein Auto gelaufen wären. Bei einem war der Schädel zertrümmert. Aber in allen Fällen gab es keine Anzeichen von äußerer Gewalteinwirkung.«
Wäre es sehr peinlich, Nick jetzt abzuwürgen? Er spürt meine Angst und bohrt umso unbarmherziger weiter.
»Es kommt noch besser: Eine der Frauen hatte keine Zunge mehr! Außerdem ergaben Tests, dass die Kleidung von allen hoher radioaktiver Bestrahlung ausgesetzt war. Die Verwandten erzählten später, dass die Haut der Leichen wie verbrannt ausgesehen habe und alle komplett graue Haare hatten. Ach ja: Augenzeugen berichteten, dass in dieser Nacht helle Lichter am Himmel ...«
»Oh bitte, bis hierhin war die Geschichte echt originell. Jetzt versau sie nicht durch so einen abgeschmackten Alien-Dreh.«
Ich kann ihn zwar im Dunkeln nicht erkennen, aber ich weiß, dass er jetzt beide Hände mit dieser Ich-bin-unschuldig-Miene nach oben streckt.
»Bitteschön, Fakt ist, dass die gesamte Gegend nach dem Vorfall drei Jahre lang gesperrt war und alle Dokumente bis 1990 weggeschlossen
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