Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
Ernährung achtete, nahm der deutsche Radsportler auch gerne einmal für seine sportlichen Zielsetzungen völlig inakzeptable Kost zu sich. Dass beide ein hohes Maß an Talent für ihren Sport mitbrachten, ist wohl unbestritten, der Deutsche sogar noch etwas mehr als sein amerikanischer Kontrahent. Was aber Letzteren auszeichnete, war definitiv seine Selbstdisziplin. Eben das zu tun, was man tun muss, in dem Moment, in dem man es tun muss.
Flexibilität eröffnet neue Möglichkeiten
Mein Herz rutscht mir fast in die Hose, so aufgeregt bin ich. Die letzten Tage habe ich nicht mehr ruhig schlafen können, zu viele Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen. Wie wird es wohl dieses Mal laufen? Komme ich gut durch? Hält mein Magen? Gleich starte ich zu einem meiner bisher längsten Läufe: 100 Kilometer am Stück. Ich laufe aber nicht irgendeinen 100-Kilometer-Lauf, sondern den legendären Bieler Hunderter in der Schweiz. Die Nacht der Nächte, so wie dieses Rennen auch genannt wird, ist bereits angebrochen. Es ist der 17. Juni 2005 und ich laufe zum dritten Mal in meinem Leben einen Ultramarathon. Eine Strecke jenseits der Marathondistanz. Bereits vor vier Jahren bin ich bei meiner Ultramarathon-Premiere in Biel gelaufen. Und bei diesem Rennen habe ich mich gequält wie noch nie zuvor: Magenprobleme, muskuläre Beschwerden und mentale Krisen ließen mich leiden. Fast achtzehn Stunden bis ins Ziel habe ich benötigt. Dieses Mal will ich es besser machen. Zusammen mit über 600 anderen Läufern stehe ich am Start dieses Kult-Ultramarathons an der Bieler Eishalle. Meine Uhr zeigt 21:58 Uhr an. Noch zwei Minuten. Nervös springe ich von einem Bein auf das andere. Ich lasse noch einmal die letzten Tage und Wochen durch meinen Kopf gehen. In der Vorbereitung habe ich einiges anders gemacht als bei meinem Lauf in 2001. Ich absolvierte mehr lange Läufe über fünf Stunden, auch in der Nacht. Meine Augen sollten sich schon vorab an die Bedingungen gewöhnen. Dazu lief ich einige Marathonwettkämpfe als Training, in einem sehr verhaltenen Tempo. Insgesamt bereitete ich mich sechs Monate gezielt auf diesen Lauf vor. Das gibt mir jetzt, so kurz vor dem Start, etwas Sicherheit. „Ich kann es und ich will es“, sage ich mir. Bereits am Nachmittag bin ich schon, zusammen mit meinem Freund Rudolf, in Biel angekommen. Rudolf wird mich bei diesem Lauf auf seinem Rad begleiten, was für mich eine enorm wichtige Unterstützung darstellt.
Peng! Pünktlich um 22:00 Uhr ertönt der Startschuss und ich laufe frohen Mutes los. Die ersten Kilometer gehen sehr schnell vorüber. Ich genieße es, die einmalige Atmosphäre bei diesem Rennen wieder erleben zu dürfen. Du läufst durch die dunkle Nacht, durch finstere Wälder und an einsamen Feldern vorbei. Da hörst du nur die Schritte der Läufer und siehst die vielen Stirnlampen, die auf- und abblinken. Ansonsten ist es ruhig. Und dann kommst du immer wieder an Ortschaften vorbei, wo das ganze Dorf noch auf den Beinen ist und uns Läufer anfeuert. Es wird gegrillt, getanzt und gelacht − und das die ganze Nacht durch. Unzählige Teelichter und Kerzen säumen die Strecke und bilden einen tollen Kontrast zu der dunklen Nacht, in die wir dann wieder eintauchen. Dann kommt Kilometer 22, der Punkt, ab dem die Biker die Läufer begleiten dürfen. Ich freue mich riesig, Rudolf zu sehen und mit seiner Unterstützung weiter durch die Nacht zu laufen. Sämtliche Ausrüstungsgegenstände wie Wechselklamotten und meine persönliche Verpflegung hat Rudolf für mich dabei. Die Kilometer bis zum nächsten größeren Verpflegungsposten bei Kilometer 38 verfliegen geradezu. Ich fühle mich ausgezeichnet und will mich an diesem Punkt nur kurz aufhalten und gleich wieder weiterlaufen. Da Rudolf noch ein kleines Bedürfnis zu erledigen hat, laufe ich schon einmal los mit dem Gedanken, dass er mich sowieso gleich wieder einholen würde. Ich laufe einen Kilometer, ich laufe zwei Kilometer … ich laufe fünf Kilometer, doch er kommt und kommt nicht. Minute um Minute vergeht und von Rudolf keine Spur. Hat er mich schon in der Dunkelheit wieder überholt, ohne dass ich es bemerkt habe? Oder ist ihm etwas zugestoßen, sodass er nicht mehr weiterfahren kann? Mein Kopf arbeitet ununterbrochen und es macht sich ein flaues Gefühl in meiner Magengegend breit. Ein beunruhigendes Kribbeln durchzieht meinen ganzen Körper. Ich bleibe immer wieder stehen und schaue mich um, ob Rudolf kommt. Bei jedem Radfahrer, der
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