Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
von hinten an mich heranfährt, hoffe ich, dass er es ist. Doch Fehlanzeige. Im Ultramarathon-Bereich verfüge ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht über so viel Erfahrung. Deshalb ist mir eine moralische Unterstützung bei diesem Rennen auch so wichtig gewesen. Darauf habe ich mich all die Tage und Wochen vor dem Lauf auch mental eingestellt. Diese moralische Stütze ist nun weg. Jetzt bin ich auf mich alleine gestellt. Ich muss mit der neuen Situation zurechtkommen. Und ich passe mich der neuen Situation relativ schnell an, weil ich ständig an das Ziel denke. Ich will unter allen Umständen das Ziel erreichen und schneller als im Jahr 2001 sein. Dieser Gedanke beflügelt mich und ich laufe weiter, als hätte es nie eine Begleitung für mich gegeben. Ohne Magenprobleme, ohne große mentale Tiefs und ohne Einbruch laufe ich Stunde um Stunde. Doch das Unglaubliche an dieser Geschichte kommt noch: Rudolf und ich treffen uns schließlich bei Kilometer 95, fünf Kilometer vor dem Ziel, wieder. Damit haben wir noch die Möglichkeit, zusammen durch das Ziel zu laufen beziehungsweise zu fahren. Nach 11 Stunden und 56 Minuten überqueren wir beide glücklich die Ziellinie. Eine Frage bleibt noch offen: Warum haben wir uns erst kurz vor dem Ziel wiedergefunden? Keine Ahnung, wir konnten nicht mehr nachvollziehen, wie wir uns verpasst hatten. Das wird wohl immer ein Geheimnis bleiben.
Bei diesem Lauf habe ich sehr viel für meine folgenden Rennen gelernt. Ich lernte, dass nicht immer alles nach Plan läuft. Ich lernte, dass man in der Vorbereitung auch unvorhersehbare Ereignisse in Erwägung ziehen muss. Ich lernte, wie ich auf neue Situationen reagieren kann, indem ich mich einfach flexibel verhalte.
Flexibilität ist eine besonders wichtige Eigenschaft − im Sport wie im Leben. Es ist die Fähigkeit, sich an veränderte Situationen anzupassen. Oder anders ausgedrückt: Flexibilität ist die Bereitschaft, mit Veränderungen umzugehen. Dieser Fertigkeit kommt in der heutigen Zeit, insbesondere im Berufsleben, ein immer höherer Stellenwert zu. In fast jeder Stellenausschreibung ist zu lesen, dass ein Mitarbeiter „Flexibilität mitbringen“ muss. Im Prinzip eine Selbstverständlichkeit, oder? Wie will man denn bitte einen Kunden individuell betreuen, wenn man als Verkäufer nicht flexibel auf dessen Bedürfnisse reagieren kann? Wie kann die Geschäftsleitung ein Unternehmen erfolgreich führen, wenn sie nicht in der Lage ist, auf die Entwicklungen des Marktes flexibel zu reagieren? Wie kann man Kinder erziehen, wenn man nicht ganz flexibel mit ihren Bedürfnissen umgeht?
Warum verhalten sich dennoch so viele Menschen unflexibel und starr wie ein Betonklotz und beharren lieber auf ihrem Status quo? Weil Flexibilität immer mit Veränderungen einhergeht. Und genau hier liegt für mich der entscheidende Punkt. Denn wie viele Menschen sind gerne bereit, gerne Veränderungen in Kauf zu nehmen? Die allerwenigsten, oder? Warum soll man denn bitte eine neue Stelle annehmen, wenn man einen sicheren Job hat? Wieso soll man in ein fremdes, unbekanntes Land ziehen, wenn man es daheim in den eigenen vier Wänden so bequem hat? Das Bedürfnis nach Sicherheit ist, gerade in Deutschland, sehr ausgeprägt und steht dem Wunsch nach Veränderung entgegen.
Ein weiterer Faktor, der gegen eine Veränderung spricht, ist die Angst. Ängste und Zweifel sind riesengroße Erfolgsverhinderer. Warum hat man überhaupt Angst? Angst entsteht nur durch mangelndes Wissen oder fehlende Erfahrung. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wir müssen uns „nur“ das entsprechende Wissen oder die entsprechende Erfahrung aneignen, damit die Angst verschwindet. Richtig? Jeder Mensch hat Angst vor irgendetwas. Das ist doch normal. Was glauben Sie, wie viel Angst ich vor dem Jungle Marathon hatte? Normalerweise besitze ich immer eine große Portion Respekt, wenn ich vor einem großen Laufprojekt stehe, aber beim Jungle Marathon waren es teilweise wirklich Ängste. Nicht wegen der Anzahl der Kilometer oder der anspruchsvollen Strecke, sondern wegen der Umgebung. Bei diesem Lauf kann dir wirklich etwas zustoßen, ohne dass du direkten Einfluss darauf hast. Wenn du mitten im Dschungel auf einen Jaguar triffst oder dich eine Schlange beißt, dann ist der Ausgang dieser Situation nicht mehr von dir alleine abhängig. Das Abschneiden bei diesem Rennen hing also nicht mehr nur von meinen läuferischen, körperlichen und mentalen Fähigkeiten ab, sondern auch von
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