Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
Laufen extrem erschweren. Mir kommt es manchmal vor, als befände ich mich nicht in der Wüste, sondern beim Yukon Arctic Ultra im eiskalten Kanada. Mit zwei Paar Handschuhen, einer warmen Wollmütze und einer Daunenjacke bewege ich mich Schritt für Schritt vorwärts. Wie das kleine, dicke Michelinmännchen komme ich mir in Anbetracht meiner drei Kleidungsschichten vor. Links und rechts des Weges liegen vereinzelt noch Schneereste. Spätestens jetzt hat der alpine Teil der Atacama Challenge begonnen. Der Wind wird immer stärker und bläst mir jetzt frontal ins Gesicht. Meine Lippen sind seit der zweiten Etappe aufgesprungen und meine Nase läuft ständig. Das trockene Klima und der viele Staub hinterlassen ihre Spuren. Wie weit ist es wohl noch?, geht es mir ständig durch den Kopf. Durch den starken Wind bemerke ich nicht einmal mehr das Begleitfahrzeug meines Teams, das von hinten an mich heranfährt. „Komm weiter. Das schaut sehr locker aus“, motivieren mich meine beiden Freunde. Dabei hätten sie genauso eine Aufheiterung gebrauchen können, denn stundenlang nur im Auto zu sitzen und bei diesen extremen Bedingungen die Zeit totzuschlagen, ist sicherlich alles andere als angenehm. Doch mir fehlt schlichtweg die Kraft dazu. Jeder Schritt ist ein Kampf gegen den Wind. Als würde ich mit angezogener Handbremse laufen, so kommt es mir vor. Ich muss mich zum Trinken immer wieder disziplinieren, denn auf 4.500 Metern benötigt mein Körper mehr Flüssigkeit. Dann endlich sehe ich die Kreuzung und das Schild mit der Aufschrift El Tatio. Das heutige Etappenziel ist damit erreicht. Ich habe exakt einen Marathon und über 1.800 Höhenmeter zurückgelegt. Dies stellt sicherlich einer meiner anspruchsvollsten Marathonläufe dar, die ich bisher bewältigt habe. Für diese Nacht finden wir glücklicherweise eine kleine Hütte, die uns vor dem orkanartigen Wind und der eisigen Kälte etwas Schutz bietet.
Doch wenn ich dachte, dass es von den äußeren Bedingungen her nicht mehr extremer werden kann, werde ich am nächsten Tag eines Besseren belehrt. Der Wind steigert sich zu einem gewaltigen Sandsturm. Außer Sand sehe ich stellenweise überhaupt nichts mehr. Ich muss immer wieder stehen bleiben, weil an Laufen einfach nicht mehr zu denken ist. Wie Tausende von Nadeln schlagen die zahllosen Sandkörner gegen mich. Mit meiner dicken Daunenjacke, meiner Winterhose, meiner Mütze und meinen Handschuhen habe ich jeden Körperteil bedeckt und schütze damit meine Haut gegen diese harten Sandkörner. Es heult und pfeift um meine Ohren. Wie lange wird der Sturm wohl andauern? Wann wird er sich wieder abschwächen? Mit zwei Kilometern an zurückgelegter Distanz in der letzten Stunde komme ich nur sehr langsam voran. Dann wird es für mich unerträglich und ich steige in das parkende Auto meines Teams. Auch Christians und Benjamins Gesichter wirken angestrengt und frustriert angesichts des starken Sandsturmes. „Willst du weiterlaufen?“, fragt mich Benjamin. „Natürlich will ich weiterlaufen“, gebe ich ihm zu verstehen. Ehrlich gesagt weiß ich in diesem Moment nur, dass ich weiterlaufen will. Mir ist aber unklar, wie und wann. Körperlich fühle ich mich weiterhin ausgezeichnet und wäre sofort weitergelaufen, wenn ich denn könnte. Die Wüste zeigt mir in diesem Augenblick sehr deutlich meine Grenzen auf. Mir wird schlagartig bewusst, wie klein wir Menschen gegenüber der mächtigen Natur sind. Da kannst du alle Willenskraft der Welt auf einmal aufbringen, wenn die Natur aber einen Riegel in Form eines Sturmes, Orkans, Erdrutsches oder Tsunamis davorschiebt, bist du machtlos. Ich kann vielleicht gegen mich und meinen inneren Schweinehund ankämpfen, aber nicht gegen Mutter Natur. Doch die Natur hat nur wenig später ein Einsehen und der Sturm schwächt ab, sodass ich meinen Weg fortsetzen kann.
„Was ist das denn bitte dort drüben?“, frage ich mich. Tausende und Abertausende futuristisch wirkende Gesteinsformationen liegen zu meiner rechten Seite. Sind das wirklich Steine? Bei genauerer Betrachtung erkenne ich, dass es sich um Salzkristalle handelt, die aus dem trockenen Wüstenboden ragen. Wie Tausende spitzer Dolche sehen sie aus. Der gewaltige Salar de Atacama tritt in Erscheinung. Dieser ist Chiles größter Salzsee, gut fünfmal so groß wie der Bodensee. Die Landschaft hat sich ein weiteres Mal verändert. Nachdem ich in den letzten Tagen noch alpine Verhältnisse, Canyons und Sanddünen erlebte, durchlaufe
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