Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
reizte mich, einmal ein selbstorganisiertes Laufabenteuer durchzuführen. Nachdem ich mit der Zeit einige der anspruchsvollsten (organisierten) Ultraläufe in der ganzen Welt erfolgreich bestritten habe, wollte ich etwas Neues ausprobieren: eben einen selbstorganisierten Lauf. Dabei wollte ich nicht irgendwo laufen, sondern in einer der für mich landschaftlich reizvollsten Umgebungen der Erde: der Atacamawüste. Diese Wüste im Norden Chiles übt wegen ihres einzigartigen Klimas, ihrer vielseitigen Landschaft, ihrer hohen Lage und ihrer extremen Temperaturschwankungen eine große Faszination auf mich aus. Sand, Staub, Stein und Wind sind hier ständige Begleiter. Vierzig Grad ohne Schatten, null Prozent Luftfeuchtigkeit und hundert Prozent Stille. Diese extremen Bedingungen haben mich für ein außergewöhnliches Laufabenteuer motiviert: die Atacama Challenge. Von diesem Abenteuer träumte ich schon lange. Im Februar 2009 wurde daraus schließlich ein konkretes Ziel. Ich wollte 600 Kilometer in vierzehn Tagen durch diese Wüste laufen. Das bedeutet vierzehn Marathondistanzen an vierzehn aufeinanderfolgenden Tagen. Ich bin zuvor noch nie so weit gelaufen. Meine Erfahrungen in Bezug auf Etappenrennen beschränkten sich auf den IsarRun und den 100-Meilen-Lauf im Himalaya, wo ich jeweils fünf Tage am Stück gelaufen bin. Dies wird also eine ganz neue Erfahrung für mich, körperlich wie mental. Doch ich brauche solche Herausforderungen und Abenteuer, sie bedeuten für mich Wachstum und Weiterentwicklung. Sie sind für mich die Essenz des Lebens.
Schon die Anreise nach Chile ist ein Abenteuer für sich gewesen. Kaum haben wir uns am Frankfurter Flughafen eingefunden, wird uns mitgeteilt, dass unser Flug wegen der Aschewolke über Island ausfällt. Sch…, das darf doch wohl nicht wahr sein. Mein Herz ist mir fast in die Hose gerutscht. Selbst die beste organisatorische Vorbereitung kann solch einen Zwischenfall nicht verhindern. Glücklicherweise erhalten wir einen Ersatzflug über Sao Paulo nach Santiago, sodass wir nur mit knapp sechs Stunden Verspätung in Chile ankommen. Wenn ich von „wir“ rede, dann meine ich meine beiden Freunde Christian Frumolt und Benjamin Opferkuch, die mich bei diesem Abenteuer begleiten und eine ganz wesentliche Rolle spielen. Von ihnen wird noch häufiger die Rede sein.
Ein paar Tage später befinden wir uns in eine der trockensten Städte der Welt: Calama, im hohen Norden Chiles. Eine abgelegene Schotterpiste, ein paar Kilometer südlich von Calama, stellt den Startpunkt des Laufs dar. Ich bin froh, hier sein zu dürfen. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre: keine anderen Läufer, keine Zuschauer, kein Gedränge, keine Hektik, keine Musik. Nicht die übliche Startprozedur wie bei großen Laufveranstaltungen. Nein, ganz entspannt stehe ich hier am Rande der Wüste und freue mich, dass ich gleich loslaufen darf. Und zwar ganz alleine. Ein Gefühl der Freiheit macht sich in mir breit. Christian und Benjamin zählen von zehn rückwärts und dann geht es endlich los: 600 Kilometer, über 6.000 Höhenmeter, vierzehn Tagesetappen durch eine der trockensten und beeindruckendsten Landschaften der Erde liegen vor mir. Nach einigen Minuten bin ich schon völlig alleine. Außer der endlosen Weite der Atacamawüste gibt es nichts um mich herum. Sand und Schotter, so weit das Auge reicht. In der Ferne kann ich die prächtigen, mit Schnee bedeckten Gipfel der Anden ausmachen. Eine Kulisse, wie gemalt. Ich genieße die Ruhe um mich. Es herrscht eine Stille, wie ich sie zuvor noch nie erlebt habe. Nur das Auftreten meiner Laufschuhe auf der staubigen Piste nehme ich wahr. Zwei Elemente bestimmen die heutige und auch die folgenden Etappen: die Weite der Wüste und das tiefe Blau des Himmels. Keine einzige Wolke bedeckt ihn. Ein Szenario, wie ich es mir zigfach während meiner mentalen Vorbereitung ausgemalt habe. Da wir Mitte Mai haben, also fast schon chilenischen Winter, sind die Temperaturen nicht ganz so heiß. Angenehme 27 Grad zeigt das Thermometer an. Dass sich das Wetter und die Temperaturen hier sehr schnell verändern können, sollen wir noch des Öfteren am eigenen Leib erfahren. Ich genieße die ersten Stunden des Laufens und des Alleinseins. In einem sehr verhaltenen Tempo, sechs Minuten pro Kilometer, bin ich unterwegs. Ökonomisch und kräfteschonend, lautet meine Devise, denn nach dem heutigen Tag liegen noch weitere dreizehn Etappen vor mir. Mein Atem geht ruhig und
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