Extrem
sie haben also einen Sinn für magnetische Kräfte. Und die Fledermaus orientiert sich mithilfe der Echo-Ortung im Dunkeln. Da es kein Licht gibt, das die Umgebung sichtbar macht, erschließt sie sich diese mit Hilfe von Schallwellen.
Doch die Evolution ist eine alte Dame, die sich gemächlichen Schrittes vorwärts bewegt. Der Anpassungsprozess an die Lebensbedingungen durch Mutation und Selektion vollzieht sich über Generationen und kann Jahrtausende dauern. Dagegen bewies Strattons Entdeckung nicht nur, dass wir offenbar auch anders sehen könnten, als es unsere Biologie eingerichtet hat. Überraschend ist vor allem die Geschwindigkeit des Lernprozesses, denn sein Gehirn benötigte gerade mal eine Woche, um sich an das verkehrte Sehen zu gewöhnen. Das ist recht kurz im Vergleich zu den 31 Jahren, die der Psychologe zum Zeitpunkt des Versuches zählte, und erst recht im Vergleich zur Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Das Experiment mit der Umkehrbrille zeigt, dass unserem Körper eine enorme Lernfähigkeit innewohnt; das Potenzial, Dinge zu tun beziehungsweise zu erlernen, die uns unmöglich erscheinen. Und das gilt offenbar nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene, deren Fähigkeiten bereits voll entwickelt sind.
Blinde müssen sich die Welt mithilfe ihrer verbliebenen Sinne erschließen. Dabei entwickeln sie häufig ein überdurchschnittliches Vermögen zu hören, zu riechen und Bewegungen wahrzunehmen. Doch erst seit circa 60 Jahren wird eine Form der Wahrnehmung erforscht, zu der wir offenbar auch fähig sind: Menschen können lernen, die Topographie ihrer Umgebung mit den Ohren zu erfassen. Die Fledermaus, von der wir die Echo-Ortung kennen, ist dazu mit einem hochsensiblen Gehör ausgestattet, das ein Mensch in dieser Form nie erreichen wird. Nach intensivem Training können Blinde sich jedoch immerhin ein recht vollständiges „Bild“ von den sie umgebenden Gegenständen machen, und zwar, indem sie – genau wie die Fledermaus – die Informationen von Schallwellen verarbeiten.
Schalleffekte
Kehren wir also noch einmal zu den Eigenschaften von Schallwellen zurück. Wie wir aus dem Kapitel „Extrem still“ bereits wissen, sind Schallwellen winzige Druckschwankungen eines schallübertragenden Mediums, und als dieses Medium fungiert meist die Luft. Sobald sie durch das Schwingen einer Schallquelle in Bewegung versetzt wird, hören wir etwas. Die Schallwellen, die sich dabei ausbreiten, stoßen jedoch auf Gegenstände, die diese Wellen zurückwerfen oder in eine andere Richtung lenken. Wer im Theater nur noch Karten für die letzte Reihe bekommen hat, kann diesen Effekt nutzen, um die Schauspieler besser zu verstehen. Dazu hält man sich einfach die flachen Hände wie Segel rechts und links an die Ohren, sodass die Schallwellen nicht am Kopf vorbeigehen, sondern von den Händen aufgehalten werden. Sofort hört man die auf der Bühne gesprochenen Worte um einiges deutlicher. Einen anderen, kuriosen Effekt können die Besucher in einer der größten Kirchen Europas ausprobieren. Die Whispering Gallery (Flüstergalerie) ist ein ringförmiger Gang, der sich in der Kuppel der St. Pauls Kathedrale in London befindet. Auf ca. 30 Metern Höhe bewegt sich der Schall hier an der Wand der Kuppel entlang, die einen Durchmesser von 34 Metern hat. Durch die Krümmung der Kuppel entsteht eine unsichtbare Bahn, in die der Schall gelenkt wirkt. Durch diese Bahn gelangt, was auf der einen Seite an der Wand geflüstert wird, auf die gegenüberliegende Seite und ist dort immer noch deutlich zu verstehen – in über 30 Metern Entfernung.
Dasselbe funktioniert auch bei dem Kunstwerk The Matter of Time des amerikanischen Künstlers Richard Serra. Es besteht aus ca. 4 Meter hohen, rostroten und bleifarbenen Stahlplatten, die, aufrecht stehend, auf verschiedene Weise in Schlangenlinien oder zu Trichtern gebogen sind. Die rund 40 Tonnen schweren Skulpturen befinden sich im Hauptraum des Guggenheim-Museums in der nordspanischen Stadt Bilbao. Es genügt, die Stahlplatten anzuflüstern oder anzusummen, um auch hier den Effekt der Flüsterbotschaft oder, wo die Platten keinen Trichter bilden, verschiedene Mehrklänge zu erzeugen. Das liegt am Material: Der Stahl reagiert auf gesungene Töne und vervielfacht sie durch seine Resonanz. Dass Serras Skulpturen den Betrachter nicht nur visuell überwältigen, sondern mit ihnen auch ganz ungewöhnliche Klangeffekte erzeugt werden können, fällt jedoch wahrscheinlich
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