Extrem
wirklich nicht viel zu tun. Langweilen wir uns zu Tode, ist es die Zeit, die an unseren Nerven zerrt. Das Ticken des Sekundenzeigers wird zur Folter. Andererseits ist es mit der Zeit ein bisschen wie mit dem Geld: Je weniger wir davon haben, desto schneller zerrinnt sie uns zwischen den Fingern.
Unser Zeitgefühl scheint launisch und nicht besonders zuverlässig zu sein. Doch es kommt noch besser. Die Erinnerung nämlich verzerrt das Zeitempfinden in entgegengesetzter Richtung: Je weniger ereignisreich die Stunden und Tage ablaufen, desto kürzer erscheint uns diese Vergangenheit in der Rückschau. Die langen Tage, an denen wir gelangweilt vorm Fernseher saßen – im Nachhinein sind sie wie im Fluge an uns vorbeigerauscht. Alte Menschen haben dieses Empfinden, dass die Jahre immer schneller vergehen, gerade weil ihr Alltag immer eintöniger wird. Wenn wir dagegen besonders viel erleben, dehnt sich die Zeit in der Erinnerung aus. Nach zwei Tagen im Urlaub, an denen wir halb Paris durchquert und den Eiffelturm bestiegen haben, fühlt es sich so an, als seien wir schon eine Woche unterwegs.
Tickt es in uns?
Die Kapriolen, die unser Zeitbewusstsein schlägt, haben – schon lange vor Eagleman – Forscher in ihren Bann gezogen. Seit gut 100 Jahren versuchen Neurowissenschaftler, eine Uhr in unserem Körper zu lokalisieren. Sie suchen nach biochemischen und neuronalen Prozessen, die für unser Zeitempfinden verantwortlich sein könnten. Schon in den 1930er Jahren stellte der Physiologe Hudson Hoagland mit seiner krankenFrau Experimente über die Zeitwahrnehmung an: Während ihr Fieber stieg, bat er sie, ihre innere Zeit zu messen. Für sie schien die Zeit mit ansteigender Temperatur immer schneller zu gehen; wenn sie glaubte, 60 Sekunden seien um, waren es tatsächlich erst 37 Sekunden. Hoagland vermutete damals, dass es sich beim Zeitempfinden um einen chemischen Prozess handelt, der an den Stoffwechsel gebunden ist. Erhöht sich die Körpertemperatur, verändern sich auch die Stoffwechselprozesse – so seine Annahme.
Neuere Studien legen nahe, dass es im Körper eine einzige, zentrale Uhr nicht gibt. Man nimmt an, dass stattdessen verschiedene Instanzen an unserer Wahrnehmung von Zeit beteiligt sind. Zum einen haben wir ein Zeitempfinden, das an die Muskelbewegungen gebunden ist. Hier können wir Bewegungsabläufe im Bereich von Sekunden und Minuten koordinieren – etwa wenn wir die Geschwindigkeit eines heranfliegenden Balls richtig einschätzen und in Sekundenschnelle eine komplexe und hochdifferenzierte Bewegung ausführen, um denselben Ball wenig später elegant in ein Tor zu bugsieren. Hirnforscher fanden in einem Teil des Gehirns, dem Kleinhirn, Bereiche mit Nervenzellen, die an diesen Vorgängen beteiligt sind. Sind diese Bereiche beschädigt, so haben Betroffene Probleme mit der Koordination feinmotorischer Bewegungen. Dass es jedoch nicht allein diese Nervenregion im Kleinhirn ist, die unser Zeitbewusstsein bestimmt, wird daraus ersichtlich, dass andere Funktionen der Zeitwahrnehmung bei Schädigungen dieser Region intakt bleiben.
Darüber, wie andere Zeitfunktionen gesteuert werden, etwa das Erinnerungsvermögen, das Kurz- und Langzeitgedächtnis, gibt es unter den Wissenschaftlern unterschiedliche Auffassungen. Der Psychologe John Gibbon entwickeltein den 1970er Jahren ein Modell von „Schrittmacher“-Neuronen: Er vermutete besondere Nervenzellen im Gehirn, die einen permanenten Puls von Neurotransmittern auslösen. Neurotransmitter sind Botenstoffe, die Informationen zwischen den Nervenzellen transportieren. Gibbon stellte sich vor, dass solche „Zeitbotenstoffe“ von den Nervenzellen in einem regelmäßigen Puls abgefeuert werden – ähnlich dem Ticken einer Uhr. Andere, wie der Neurologe Warren Meck, nehmen an, dass verschiedene Gruppen von Neuronen in unterschiedlichen Frequenzen oszillieren. Das würde bedeuten, dass einzelne Neuronengruppen, indem sie verschiedene Takte angeben, für die Wahrnehmung verschiedener Zeitabschnitte verantwortlich sind.
Die innere Uhr
Feinmotorische Bewegungen, Erinnerung, Kurz- und Langzeitgedächtnis: All dies sind Funktionen, die an ganz unterschiedliche Zeitmaße gebunden sind. Bei Bewegungen gilt es, Abläufe im Millisekundenbereich zu koordinieren; Erinnerungen können sich hingegen Jahrzehnte in die Vergangenheit erstrecken. Die Grundstruktur jeglicher Zeitmessung ist uns indessen durch die Natur vorgegeben. Der durch unser Sonnensystem bedingte Zyklus
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