Fabula
ein Raubtier.
Das Spinnentier.
»Dann endlich habe ich ihn gefunden.«
Danny kauerte weinend inmitten der knorrigen Wurzeln eines riesigen Baums. Er hatte die Beine angewinkelt und mit den Armen umschlungen, so fand ihn Colin.
»Als er mich sah, begann er zu schreien«, erinnerte sich Colin. »Er hat Angst vor mir gehabt.«
Danny schrie wie am Spieß und versuchte zu entkommen, doch sein Bruder, das Spinnentier, war schneller.
»Ich lief auf ihn zu und wollte ihn in die Arme nehmen, wie ich es immer tue, wenn es ihm nicht gut geht.«
Doch Danny sah nur jenes grässliche Spinnentier, das viel zu groß war, um eine gewöhnliche Spinne zu sein, auf sich zustürmen. Es war über ihm, bevor er noch einmal richtig schreien konnte.
»Ich redete auf ihn ein, wollte ihn beruhigen, berührte sein Gesicht.«
Und Danny verlor fast den Verstand vor Angst, als das Spinnentier ihn ansprang.
Die klickenden und klackenden Kiefer waren seinem Gesicht so nah, und die harten schwarzen Spinnentierbeine mit den Haaren hielten ihn fest umklammert.
Er jammerte, verzweifelte, schrie sich die Seele aus dem Leib.
Der Atem aus dem Mund der Spinne benetzte ihm die Sinne. Er hielt inne.
Nur ein einziges Wort vermochte er zu stöhnen: »Colin?«
Die pechschwarzen Eacettenaugen des Spinnentiers färbten sich braun, und Tränen glitzerten feucht darin. Die Kiefer wurden zu Lippen, und eine Nase wölbte sich aus der Spinnentierfratze, die immer mehr zum Gesicht eines Jungen zerf »Danny hatte meinen Geruch erkannt«, flüsterte Colin leise und unsicher und hatte eine ungefähre Ahnung, wie verrückt sich diese Geschichte in den Ohren des Mädchens anhören musste. »Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er mich nicht erkannt hätte.« Er sprach nicht aus, was, seiner Meinung nach, hätte passieren können. Nein, er konnte nicht daran denken, was hätte passieren können, wenn Danny ihn nicht am Geruch erkannt hätte. Er hatte Hunger verspürt, tief in sich drinnen, wenn auch nur für einen ganz, ganz kurzen Augenblick.
»Mama hat mich eingesperrt«, wimmerte Danny.
Colin, der schnell wie ein Fingerschnippen wieder Colin geworden war, hielt seinen Bruder ganz fest in den Armen.
Papageien, Affen und andere Tiere kreischten hoch oben in den Baumwipfeln.
»Sie haben mich durch die Wüste gejagt«, wimmerte Danny, »so viele waren es, Spinnen und Skorpione, und da war sogar eine Gottesanbeterin. Tn jeder Ecke haben sie mir aufgelauert, überall. Sie sind mir in die Hosenbeine gekrabbelt und haben zugebissen, kleine Bisse, wirklich überall.« Er schluchzte und zitterte am ganzen Leib, während die Bäume in sich zusammenschrumpften und die Laute des Urwalds verstummten. Die Lianen hörten auf sich zu schlängeln, und hinter dem Dickicht wurden die Konturen des Schranks sichtbar und dahinter das Muster der Tapete und schließlich das Fenster, durch das helles Tageslicht in den Raum fiel, der jetzt weder Wüste noch Dschungel, sondern nur ein normales Zimmer in einem großen Haus voller Geschichten war.
Danny indes schluchzte ohne Unterlass.
Und Colin, der kein Spinnentier mehr war, hielt ihn ganz fest in seinen Armen - mehr konnte er nicht tun.
Die Tür öffnete sich leise, kaum merklich, und da stand ihrer beider Mutter.
Sie sah nur Danny an.
Mit ihrer energischen, keinen Widerspruch duldenden Stimme sagte sie: »Ich weiß, was dir Angst macht.« Die hellen Augen waren kalt und berechnend. »Und du weißt, was du zu tun hast.« Sie hob das Kinn und wartete. Als Danny nichts erwiderte, verzogen sich die dünnen Lippen zu einem schneidenden: »Nun?«
Danny schaute auf. »Ich ... ich ...« Er musste mehrmals ansetzen, um den Satz beenden zu können. »Ich passe jetzt besser auf in der Schule. Versprochen.«
Helen Darcy nickte.
Dann drehte sie sich um und verließ wortlos den Raum. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, und für einen kurzen Moment fürchteten beide Kinder, die Geschichte könne sich wiederholen und Wüste und Dschungel würden zurückkehren.
Glücklicherweise passierte nichts davon.
»Sie hat mir die Geschichte von den vielen Spinnen erzählt«, schluchzte Danny, »du weißt schon, die, vor der ich immer so eine Angst habe. Sie hat sie mir ganz ausführlich erzählt, und dann hat sie mich in dieses Zimmer gesperrt und allein gelassen.«
Colin kannte die Geschichte von den schwarzen Spinnen und den roten Skorpionen. Es war ein orientalisches Märchen von einem Wüstenwanderer, der die
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