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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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in den Mund, und die meisten Menschen meinen es gar nicht so. Sie sagen Ich liebe dich und wollen nur ihre Ruhe. Sie haben Sex und sagen die Worte leichten Herzens. Sie wollen Sex, und die Worte sind der Schlüssel dazu. Dabei sollte es doch eigentlich ein Versprechen sein. Man sollte sie nicht zu jemandem sagen, den man nur mag, weil er ein netter Kerl ist. Sie sind magisch. Sie sind der einzige Zauber, der uns geblieben ist. Wenn man sie wirklich meint und einmal freilässt, dann sind diese Worte ein Leben lang bei dir.«
    Colin brauchte nur ein einziges Wort, um alles zu sagen, was in ihm vorging: »Livia.«
    Sie trafen sich fast jeden Tag, nach der Schule und spätnachmittags oder abends in den Pubs von Stranraer. Sie redeten und redeten, und zwei Leben, die unterschiedlicher nicht hätten verlaufen können, wurden in nur wenigen Tagen zu einem einzigen Leben, das im selben Takt schlug wie die Herzen, die es antrieben.
    Livia war das einzige Kind von Giovanni Lassandri, der noch vor der Geburt des Mädchens nach Schottland gekommen war. Eine Mutter hatte Giovanni niemals erwähnt, nicht seiner Tochter gegenüber und auch nicht anderen Menschen gegenüber. Das Einzige, was er jemals erwähnte, war, dass er Livias Mutter bei der Arbeit kennen und lieben gelernt hatte.
    »Jeder hat doch ein Geheimnis«, pflegte Livia zu sagen, »und Mama ist seines.«
    Colin gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Was hätte er auch anderes tun sollen? Livia war das Mädchen, in das er sich verliebt hatte, und dann, eines Tages, war sie einfach verschwunden.
    Ihr Vater gab nicht nur keine Auskunft über den Aufenthaltsort seiner Tochter, nein, er drohte Colin sogar mit Schlägen, sollte er sich nicht schleunigst von seinem Land entfernen.
    Es war an einem Spätsommertag gewesen, daran erinnerte Colin sich noch genau. Er hatte Livia seit zwei Tagen nicht gesehen und wollte sie sprechen. Als er bei ihr zu Hause ankam, da empfing ihn ein übellauniger Vater, der ihm alle Plagen der Welt an den Hals wünschte und ihn, gelinde formuliert, vor die Tür setzte.
    Colin ging zum Friedhof, doch auch dort fand er sein Mädchen nicht vor.
    Livia Lassandri blieb verschollen, all die Jahre lang, und jetzt stand sie in Portpatrick hinter der Rezeption der Ancient Mariner's Lodge und sah ihn an, als sei die Zeit kein Ozean, den man nur einmal überqueren konnte.
    »Du hast keine Ahnung, warum ich damals gegangen bin.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie das sagte.
    Colin schüttelte den Kopf.
    Sie schlug das Gästebuch auf und schrieb etwas hinein. »Zimmer fünf ist deins.« Sie drehte sich um, nahm einen Schlüssel von der Wand. »Die Treppe hinauf, es ist das dritte Zimmer auf der linken Seite des Korridors. Du findest es schon.« Sie reichte ihm den Schlüssel, ließ ihn in seine Hand fallen. »Wir reden später«, sagte sie, »nicht jetzt.« Sie sah ihn lange an, ohne ein Wort zu verlieren.
    Colin Darcy starrte zurück, den Schlüssel in der Hand. Dann nickte er, so langsam, als koste es ihn alle Kraft, die er aufbringen konnte. Dann ging er die Treppe hinauf, hörte die Dielen unter seinen Schritten knarren und roch den Teppichboden auf den Stufen und sah die Bilder an den Wänden. Alles war intensiv und gleichsam unwirklich.
    Er betrat sein Zimmer, das klein und sauber und aufgeräumt war und von dem aus man bis zum Hafen hinunterschauen konnte, schloss die Tür hinter sich, ließ sich aufs Bett fallen und schloss die Augen.
    Atmete durch.
    Er hatte soeben Livia wiedergesehen. Meine Güte, wie konnte das sein? Sie war da, nach all den Jahren, einfach so, ohne Ankündigung. Sie war wieder hier.
    Und das bedeutete ... was?
    Sie war kein Mädchen, und er war kein Junge mehr. Livia Lassandri würde ein Leben haben, wie er eines hatte. Sie waren jetzt beide erwachsen, so einfach war das. Die Liebe, die sie empfunden hatten, war die Liebe zweier Kinder gewesen.
    Trotzdem!
    Er musste lächeln. Es tat gut, es zu tun, und er konnte es auch gar nicht verhindern. Colin Darcy fühlte sich mit einem Mal so gut wie eine Polka von Mantovani.
    Er schaute auf die Uhr.
    Acht Uhr war bereits in einer Stunde.
    Er konnte es gar nicht erwarten, sie wiederzusehen. Doch dann gesellte sich zu dem Glücksgefühl ein nagendes Unwohlsein, das (hätte es anders sein können?) mit Ravenscraig zu tun hatte.
    Was genau war damals geschehen?
    Er dachte an den Tag, an dem sie fort gewesen war, an das hasserfüllte Gesicht ihres Vaters.
    So saß er auf der Bettkante,

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