Fabula
waren fort, im Theater oder sonst wo. Danny und ich haben uns heimlich vor den Fernseher gesetzt und Rio Bravo angeschaut.«
Nicht lange danach hatte Colin Geschichten erfunden, die in Rio Bravo spielten.
»Als wir den Film angeschaut haben, da hat Danny gesagt, dass Mama uns dort, in diesem kleinen Kaff am Ende der Welt, niemals finden würde und dass wir vielleicht nach Rio Bravo gehen sollten, wenn sie wieder mal sauer war.«
So hatte es begonnen.
Das war der Ursprung der seltsamen Geschichten gewesen, die Colin seinem Bruder erzählte. Und in den Geschichten waren Danny und er die Helden. Mutig und entschlossen wie John Wayne und Dean Martin schritten sie die Hauptstraße auf und ab, denn dies war ihr Ort.
Es war der Ort, den sie aufsuchten, wenn sie verzweifelt waren und aus Ravenscraig flüchteten. Er sah nicht so aus wie der Ort aus dem Film, nicht wirklich. Rio Bravo sah so aus, wie schottische Jungs sich an einen Western erinnern, den sie nur einmal spätabends gesehen haben. Rio Bravo war eine Erinnerung, eine Welt, gezeichnet in unechtem Technicolor, fremd und abenteuerlich, und doch mit der Heimat der beiden verwachsen. Die Wälder, die Rio Bravo umgaben, sahen aus wie gezeichnet und erinnerten Colin an die Wälder um Loch Heron. Es gab ein kleines Haus, das die Jungs bewohnten, wenn sie dort waren, außerhalb der Stadt gelegen. Sie hassten große Häuser, deswegen war es ein kleines. Pferde gab es, anders als im Film, gar keine. Es gab Vögel, recht viele sogar, und andere Tiere, die man in den Rhinns antraf und die Colin von seinen Wanderungen mit Archibald Darcy kannte. Einmal hatten sie einen Marder gesehen, der dem Marder, den Danny in der Grundschule mit unsicherer Hand gezeichnet hatte, zum Verwechseln ähnlich sah.
»Es ist ein seltsamer Ort«, sagte Colin. »Wir sind froh, dort zu sein, aber dann, nach einiger Zeit, wollen wir auch wieder nach Hause. Ich weiß nicht, ob es gut ist, länger dort zu bleiben.«
Dann erzählte er ihr von dem Tag, an dem die Banditen nach Rio Bravo kamen.
»Vorher war es ein Versteck gewesen, das niemand kannte. Doch dann kam diese Bande in die Stadt.«
Colin rief sich diesen Tag ins Gedächtnis zurück. Er saß neben Livia unter dem Efeudach und redete und redete, und alles, was er wusste, war, dass es gut tat, dies alles mit ihr teilen zu können. Nicht mit irgendwem, nein, nur mit ihr.
»Ich kam gerade aus der Schule«, erzählte er.
Livia sagte nichts.
Lauschte.
»Es war später Nachmittag.«
Der Bus, der ihn von der Schule nach Hause brachte, hatte ihn an der A77 aussteigen lassen, genau dort, wo die Straßen nach Dunskey Castle und Ravenscraig abzweigen und von wo aus Colin den restlichen Weg bis zum Anwesen zu Fuß zurücklegen musste.
Normalerweise ließ er sich alle Zeit der Welt und schlenderte mit schlurfenden, langsamen Schritten die Einfahrt hinauf, und manchmal, wenn es nicht regnete, legte er sich in den Schatten eines der großen Bäume und döste noch ein wenig vor sich hin, bevor er Ravenscraig betrat.
An besagtem Tag jedoch hatte Colin das ungute Gefühl beschlichen, dass etwas passiert war, und er wusste einfach, dass er sich nicht verspäten dürfte.
»Es war so eine Ahnung gewesen.«
Eine Ahnung, die ihn schneller und schneller gehen ließ.
Je näher er dem Anwesen kam, umso stärker wurde das Gefühl, dass Unheil im Anmarsch war. Also ging er noch schneller, bis er am Ende ganz außer Atem war.
So erreichte er Ravenscraig, und Danny fing ihn ab, noch bevor er das Haus betreten konnte.
Ganz aufgeregt kam er auf ihn zugerannt. »Wir sollten abhauen«, sagte er, ganz außer sich. Er war sechs geworden, eine Woche zuvor, und Colin war vierzehn. Erst in einem Jahr würde er Livia Lassandri auf dem Friedhof kennenlernen. Erst in einem Jahr würde er über all dies mit jemandem reden können.
»Was ist passiert?«
»Sie streiten sich.«
Beide schauten gleichzeitig zu dem großen Haus. Die leeren Fenster erwiderten den Blick, ohne ein Wort zu sagen.
»Weißt du, was los ist?«
»Papa schreit Mama an, und dann schreit sie zurück. Das geht schon seit fast einer Stunde so. Es hat etwas mit dem Aquarium zu tun, glaube ich.«
»Dem Aquarium?«
Danny nickte.
Das Aquarium war ein großer, nein, ein gigantischer Glaskasten, der in Archibald Darcys privatem Arbeitszimmer stand und fast eine ganze Seite des Raumes einnahm.
Vor zwei Jahren hatte er sich den riesigen Glaskasten liefern und sämtliche Regale auf dieser Seite des Raums
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