Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
älteren Blechkessel mit Wasser darauf. »Tee?« Es war keine Frage, nur eine Aufforderung.
    »Earl Grey, bitte.«
    Colin sah sich um. Jemandes Wohnung so zu betreten, wie er es gerade tat, war etwas Geheimnisvolles. Zu sehen, wie jemand lebte, war mit nichts zu vergleichen.
    In Livias Kate roch es nach Tee und Farbe und etwas, was ein leichtes Parfüm sein mochte. Es roch nach Räucherstäbchen, die abgebrannt waren, und Orangen, in die jemand Nelken gesteckt hatte. Von außen hatte die Kate klein gewirkt, doch drinnen sah sie größer aus, was daran lag, dass es keinen Dachboden gab. Es war nur ein einziger großer Raum, ein künstlerisches Durcheinander von Krimskrams.
    »Und?« Sie zwinkerte ihm erwartungsvoll zu.
    »Was meinst du?«
    »Vermisst du dein Telefon?«
    Er zögerte kurz, sagte dann aber: »Nein, eigentlich nicht.«
    »Ich habe gar keins.«
    »Du hast kein Telefon?«
    Sie schüttelte den Kopf, und ihre Haare flogen unruhig hin und her. »So ruft auch niemand an.«
    Colin fragte sich, ob dies ein erstrebenswertes Ziel war, dachte an all die Nachrichten, die normalerweise seine Mailbox bevölkerten, an die durch und durch lästigen und immerzu äußerst dringenden SMS vom Lehrstuhl. In dem Leben, das er bis gestern Mittag noch gelebt hatte, war er niemals vom Kommunikationsnetz getrennt gewesen. Das Internet und sein Mobiltelcfon waren ständige treue Begleiter gewesen. Das hatte alles zu seinem London-Leben gehört, bis Livia sein Telefon ins Meer geworfen hatte. Jetzt würde ihn während der nächsten Tage niemand mehr erreichen, kein Randall, kein Kneer, keine Rachel, einfach niemand.
    Er war woanders, in einer anderen Welt, die so verschieden war vom London-Leben, wie irgendetwas nur sein konnte.
    Er war wieder in den Rhinns.
    Ja, jetzt war er hier, in einer Kate dicht bei den Klippen von Black Head, und es gab nicht einmal ein Telefon, wie wunderbar.
    »Du hast damals gezeichnet«, sagte er.
    Livia, die ihre Haare mit einem bunten Band bändigte, räumte ein paar Klamotten aus dem Weg, indem sie wie beiläufig die Tür des riesigen Kleiderschranks mit dem Fuß aufstieß und einfach alles hineinwarf. »Ja, und damit habe ich nicht aufgehört. In der Ancient Mariner's Lodge helfe ich nur aus. Eine Freundin arbeitet dort. Sie hat ein Kind, ein Mädchen, und der Vater, diese Pfeife, ist vor einem Jahr abgehauen. Wenn sie also einen freien Abend braucht oder die Kleine krank ist, springe ich ein. Das kommt manchmal oft vor und manchmal lange Zeit nicht.«
    »Du kannst von der Malerei leben?«
    Sie musste laut lachen. »Du siehst, in welchem Luxus ich schwelge. Ja, ich kann davon leben. Davon und von den vielen anderen kleinen Jobs, die ich nicht ausschlage, wenn sie mir jemand anbietet.« Sie erzählte ihm von ihrem Vater, dem sie auf den Friedhöfen der Umgebung half, wenn er sie darum bat, von den Fischerbooten in Stranraer und Portpatrick, die oftmals eine Aushilfe gebrauchen konnten. »Daneben gebe ich Kurse für Touristen, drüben in Portpatrick. Naturfreunde mit Geld in der Tasche. Ich fahre mit ihnen bis runter nach Cairngaan oder rauf zum Corsewall Point. Wir setzten uns mit der Staffelei in die Landschaft und malen die Klippen, das Meer, die Schiffe, den Himmel, die Leuchttürme. Den Leuten jedenfalls macht es Spaß. Und wenn es den Leuten Spaß macht, dann macht es mir auch Spaß. Ich tue das gern, so einfach ist das. Ich brauche keine Reichtümer, um glücklich zu sein.«
    »Wo ist die Toilette?«, fragte er, weil ihm gerade diese Frage jetzt in den Sinn kam.
    »Draußen«, antwortete sie. »Musst du jetzt gleich dorthin?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Hinter dem Haus ist ein Schuppen, das ist die Toilette.« Sie bemerkte, dass Colin die Badewanne betrachtete, die fast mitten im Raum stand. Daneben hing ein großes Porzellanwaschbecken mit gewundenen Hähnen an der Wand, fleckig und mit abgebröseltem Lack. »Es ist ja niemand da, den es stört«, sagte sie. Der Kessel pfiff, und sie schüttete den Tee auf.
    Colin stieg vorsichtig über den am Boden liegenden Krempel, um seine Tasse in Empfang zu nehmen.
    »Er ist heiß«, warnte Livia.
    Colin suchte sich einen Platz auf dem Sofa, das unter einem der runden Fenster stand.
    »Sind das Bullaugen?«, fragte er erstaunt.
    »Ein Strandpirat hat die Kate gebaut, so erzählt man sich. Das muss im letzten Jahrhundert gewesen sein. Du kennst die Geschichten: Sie haben die Schiffe mit falschen Leuchtfeuern auf die Klippen gelockt, und wenn sie gesunken

Weitere Kostenlose Bücher