Fächerkalt
›Herrgottswinkel‹
sagen die Leute hier dazu. Die meisten sind ja katholisch.«
»Natürlich,
damit hat dieser Kerl als Erstes aufgeräumt. Ein Kreuz wäre so ziemlich das Letzte,
was zu dem passen würde. Eher das genaue Gegenteil.«
»Der dicke
Jäger hat’s mir gesagt«, antwortete der Kommissar leise und resigniert. »Augen wie
der Leibhaftige.«
Das war
das Letzte, was in dem alten Silberstollen gesprochen wurde. Der kalte Schlaf überwältigte
sie, Rücken an Rücken. Irgendwann kippten sie um, kippten in die scharfkantigen
kleinen Granitsplitter, die sich schmerzhaft durch die Kleidung drückten. Sie hatten
keine Kraft, sich nochmals aufzurichten.
Schon sehr früh, gegen halb zwölf
desselben Tages, hatte Paul Wellmann, der in Lindts Abwesenheit für die Organisation
der Arbeit der Mordkommission zuständig war, beschlossen, dass für diese Woche genug
gearbeitet worden war.
»Wollt ihr
eure Überstunden gleich heute abbauen?« Mit dieser Frage machte er sich bei den
Kollegen auf Anhieb sehr beliebt.
Eine Rückfrage
bei Chef Lindt war mangels Netzverbindung nicht möglich – das kam ihm gerade recht.
»Garantiert hocken die beiden in einer urigen Vesperstube und schieben sich eine
Ladung Schwarzwälder Schinken rein, also brauchen wir uns heute auch keinen abzubrechen«,
sagte Wellmann, die übrigen Kommissionsmitglieder applaudierten und schlossen für
diese Woche die Akten.
Fatal war,
dass er mit einem letzten Blick auf den Computermonitor zwar das Bewegungsprofil
von Eduard von Villing abgefragt, sich jedoch nicht mehr in die Raumüberwachung
eingeloggt hatte. Genau um 11.32 Uhr, vier Minuten, bevor Paul seinen Computer herunterfuhr,
meldeten sämtliche Mikrofone Totalausfall. Leider war keiner da, der auf diese Information
hätte reagieren können. Der Fokus des Wellmann’schen Denkens lag längst auf den
24 Bienenvölkern im Albtal, die dringend auf den Winter vorzubereiten waren.
Kurz nach
zwölf war er zu Hause in Neureut, freute sich über ein gemeinsames Mittagessen mit
seiner Frau und brach gegen 14 Uhr, gekleidet in eine blaue Latzhose, einen alten
Wollpullover und abgenutzte Arbeitsschuhe, in Richtung seines Bienenhauses auf.
In Ettlingen entdeckte er eine Tankstelle mit besonders günstigem Diesel und beschloss,
seinen VW Passat vollzutanken.
Nach dem
Bezahlen stieg er ins Auto und wollte gerade starten, als sich ihm ein Gedanke an
seine Kollegen Oskar und Jan in den Kopf schlich. War es ein Anflug schlechten Gewissens,
dass er die günstige Gelegenheit für frühen Feierabend genutzt hatte, während die
beiden anderen arbeiteten?
Ach was!
Er beschloss, den Zweifel zu verdrängen und fuhr los, doch wenige hundert Meter
später hielt er in einer Busbucht an, griff zum Handy, das er auch außer Dienst
immer bei sich trug, und drückte die Kurzwahl für Lindts Nummer. ›… vorübergehend
nicht zu erreichen‹, verkündete die weibliche Stimme. Er versuchte es bei Jan –
dieselbe Bandansage.
Wellmann
schaute auf die Uhr und rechnete. Gegen halb zehn waren seine Kollegen weggefahren,
plus zwei Stunden Fahrzeit machte halb zwölf, plus zwei Stunden Befragung machte
halb zwei, plus eine Stunde Mittagspause machte halb drei. Alles konnte sich in
einem Bereich ohne Handynetz abgespielt haben. Okay, ich hab’s versucht. Wellmann
fuhr weiter. Ein dummes Gefühl in seiner Magengrube blieb.
Am Bienenstand
angekommen, hüllte er sich in die weiße Schutzkleidung, setzte den breitkrempigen
Hut samt Schleier auf und begann mit der dringend nötigen und lange aufgeschobenen
Arbeit. Oskar, du willst meinen Honig essen, also musst du mir auch mal freigeben,
ging ihm durch den Kopf. Oskar? Oskar Lindt ließ sich nicht aus Paul Wellmanns Innerem
verdrängen.
Um 15 Uhr
legte er deshalb Hut und Schleier ab, ging zum Auto, holte das Handy und versuchte
erneut, seine Kollegen zu erreichen. Abermals keine Verbindung. Konnte das sein?
Eigentlich müssten sie jetzt auf der Rückfahrt sein, und unten im Kinzigtal war
der Handyempfang auf jeden Fall überall möglich. Der Beinahe-Unfall mit dem Unimog
auf der schmalen Waldstraße kam ihm in den Sinn. Nach dem dauernden Regen der letzten
Tage sicherlich keine einfache Strecke.
›Ach, Paul,
du machst dir wie immer viel zu viele Gedanken.‹ Er hatte Lindts Stimme im Ohr.
Gut, Oskar, ich gebe dir noch bis halb vier, beschloss er, behielt das Mobiltelefon
in der Hosentasche. Das war gut so, denn kurz vor halb rief Carla an.
»Was macht
ihr denn?«,
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