Fächertraum
»Vielleicht feiert er gerade.«
»Mit zwei Thüringern?«
»Jan!«
Sternberg hielt sich die Hand vor den Mund.
»Hat einfach seine Zunge nicht im Zaum, der junge Kollege hier«, zwinkerte der Kurze.
Lindt dagegen dachte keineswegs an Bratwürste, eher schon an Inka und was ihr Artikel bewirken könnte. Deutlich schneller als sonst schritt er aus. Ohne die geringste Ahnung wohin, ging er erst die Karlstraße hinunter bis zur Ebertstraße, dort spontan nach rechts, hinüber zur Europahalle. Einzelne Sonnenstrahlen schafften es erstaunlicherweise, das Novembergrau zu durchbrechen, und als er durch die Günther-Klotz-Anlage der Alb entlangschlenderte, fand sich sogar eine halbwegs trockene Bank.
Längst nicht mehr so schnell und hell schäumend wie weiter oben im Schwarzwald, sondern eher gemächlich, aber dennoch geheimnisvoll strudelnd, glitt das dunkle Flüsschen auf seiner letzten Strecke in Richtung Rhein.
Lindt entspannte sich, dehnte und reckte sich, schaute den kleinen flachen Wellen nach, betrachtete ein Entenpärchen, erinnerte sich an den gestrigen Abend und an Carla, mit der er sich ausgesprochen hatte.
Er sinnierte über sein Berufsleben, über die paar Jahre, die er noch arbeiten musste, über seine sympathischen Mitarbeiter, aber auch über die weniger netten Kollegen, die ihm seine Erfolge neideten und sich über die Freiheiten aufregten, die er sich nahm.
Was bleibt von einem langen Polizistenleben? Wird man von mir auch einmal so sprechen, wie von meinem Lehrmeister, dem alten Kopp? Bin ich jetzt schon der ›alte‹ Lindt?
Wirklich alt fühlte er sich als Mittfünfziger noch lange nicht und heute, nach Inkas öffentlichem Rundumschlag gegen die Eiserne, schon überhaupt nicht mehr. Eher frisch und voller Tatkraft, auch wenn er noch keine Ahnung hatte, ob die hagere Oberstaatsanwältin Konsequenzen aus ihrem Verhalten zu erwarten hatte. Trotzdem beflügelte ihn die Hoffnung darauf. Er spürte den Fluss neuer Energie, so kraftvoll wie das Wasser vor ihm, das die Augen des Kommissars magisch in seinen Bann zog.
Ein kleines Schiffchen aus gelbem Papier kam näher, schaukelte heran. Eigentlich hätte es viel schneller vorbeiziehen müssen, aber die Strömung schien keinen Einfluss darauf zu haben. Direkt vor dem Kommissar hielt es an, immer noch schaukelnd, kam aber nicht mehr vorwärts. Im Innern bewegte sich etwas. Lindt kniff die Augen zusammen. Die Spitze in der Mitte wuchs und wuchs, klappte auf, faltete sich auseinander, kippte zur Seite und eine neue Papierspitze kam hervor. Langsam, ganz vorsichtig, so, als entfalte sich eine Blüte, stülpte sich gelbes Papier empor, bog sich auf, legte sich nach außen und wuchs und wuchs und wuchs.
Völlig trocken schien das Schiff, aber es wurde groß und größer, faltete und klappte, bis es schließlich an das gegenüberliegende Ufer reichte und die Alb voll bedeckte.
Er wollte sich die Augen reiben, aber seine Arme und Hände gehorchten nicht. Unfähig, sich zu rühren, saß er auf der Bank und begriff nicht, was vor seinen Augen passierte.
Fassungslos bemerkte er, wie das gelbe Riesenboot plötzlich stark schwankte. Etwas war von der anderen Flussseite her darauf gehüpft. Erst konnte er es nicht recht erkennen, nur eine Bewegung, dann sah er es plötzlich ganz klar. Wuscheliges Fell, ein Tier, ja, wieder der Spaniel – Beagle, ebendieser Hund aus dem Hardtwald. Was machte der denn hier? Natürlich – buddeln. Ein Loch in Windeseile. Schon spritzte der Sand. Nein, diesmal war es Wasser. Ein Loch in der Mitte des Schiffs! Schwarzes Nass strömte heraus, ein Strudel quoll nach oben, sog den Hund hinein, zog das Papier heran, von allen Seiten gleichzeitig, faltete das Boot zu einem Trichter, gurgelte in die Tiefe, riss alles mit hinunter …
Ein Schauer überlief ihn. Lindt riss die Augen auf. Nichts, nur das dunkle, rätselhafte Wasser der Alb.
Er griff in seine Gesäßtasche und begann zu schreiben.
Erst nach einer Stunde konnte Oskar Lindt aufstehen. Ganz unsicher auf den Beinen stolperte er vorwärts.
Ein leuchtender Fleck im Ufergebüsch stach ihm ins Auge. Türkisfarben, Lindt blieb stehen, kniff die Augen zusammen, um schärfer zu sehen. Tatsächlich, ein Eisvogel. Konnte das sein? Mitten in der Großstadt? Träumte er schon wieder?
Nein, der Vogel war Wirklichkeit. Glitzernd wie ein Edelstein leuchtete das blau-grüne Federkleid in einem der verirrten Sonnenstrahlen.
Zack, kopfüber, mit dem überdimensional langen
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