Fänger, gefangen: Roman
sie mir verzeihen, dass ich nach Mexiko nicht gesund geworden bin.
Als ich mich so stark an alles erinnere, breche ich total zusammen und muss aufstehen und ein paar gottverdammte Taschentücher suchen. Man sollte meinen, dass die Tränendrüsen irgendwann austrocknen, wenn man sie so viel benutzt. Gott verhüte, dass Mack rauskriegt, was für ein Weichei ich geworden bin. Da wird selbst er denken, dass es Zeit ist, einen neuen besten Freund zu finden. Als ich wieder klar sehen kann,entdecke ich einen Becher von einem Ausflug in der siebten Klasse zum Aquarium von Virginia Beach, mit meiner lebenslangen Sammlung an Kugelschreibern darin. Ich sehe sie durch, höre aber abrupt auf, als mir der eine in die Finger kommt, den ich aus der Arztpraxis in Richmond geklaut hab, als sie das erste Mal von Chemo sprachen. Mom will bestimmt keinen Kugelschreiber von ihrem toten Sohn.
Mein Spanischbuch als Erinnerung an Mexiko? Oder die Ausgabe vom
Fänger im Roggen
, die Joe mir zu Weihnachten aus dem Secondhand-Buchladen geschenkt hat? Vielleicht versteht sie dann, warum ich wegwollte. Wenn sie die Stelle liest, wo Holden vom Erwachsenwerden spricht.
Ganz hinten in der untersten Schublade, hinter den alten Laborberichten, dem zerknitterten Dinosaurier-Diorama und der Bibel, die Nick aus irgendeinem Hotelzimmer mitgenommen und es dann nicht zugegeben hat, fühle ich etwas Kleines in knisterndem Papier. Ich ziehe es raus. Es ist ein Glückskeks, und ich weiß nicht, von wann oder wo, weil Mom und Dad schon seit Jahren Glutamat verschmähen. Ich werfe ihn eine Weile von einer Hand in die andere und überlege, ob ich ihn öffnen oder ihr ungeöffnet hinterlassen soll in der Hoffnung, dass etwas für sie Inspirierendes drinsteht. Ich hatte schon mal WAS DICH NICHT UMBRINGT, MACHT DICH STÄRKER und LIEBE HEILT ALLE WUNDEN und BEHARRLICHKEIT FÜHRT ZUM ZIEL. Davon würde jetzt nichts passen.
Wahr ist leider, dass es kein einziges Ding in meinem Zimmer gibt, in Essex County, in meinen sechzehneinhalb Lebensjahren, das bedeutsam genug für Mom ist. Ich werde ihr von New York aus schreiben. Vielleicht ist das, was ich sagen muss, aus der Entfernung einfacher. Ich drücke die Schubladen wieder zu und unterschreibe das Testament besonders schwungvoll, damit sie nicht mitkriegen, wie schwach und dumm ich mich plötzlich fühle. Das ist der Grund, weshalb Holden wegwill, bevor seine Eltern nach Hause kommen. Wie kannst du von Angesicht zu Angesicht mit Leuten reden, die dich lieben, obwohl du sie enttäuschst?
Der blöde kleine Glückskeks starrt mich aus seiner unberührten Packung an. Irgendeine Maschine am anderen Ende des Ozeans oder vielleicht in Secaucus, New Jersey, hat einen einzelnen chinesischen Buchstaben auf die Klarsichthülle gedruckt. Er sagt mir nichts, weil ich kein Chinesisch kann und es nie lernen werde, und das ist mir jetzt auch scheißegal. Ich reiße die Packung mit den Zähnen auf und werfe den Keks auf den Schreibtisch. Das kleine Papierstück springt hervor, zusammengeknüllt nach all den Jahren der Gefangenschaft.
Heb ihn auf und lies ihn,
befehle ich mir selbst.
Lies das verdammte Ding und bring es hinter dich
.
KEIN GESCHENK HAT BESTAND AUSSER LIEBE.
Ich klebe den kleinen Papierstreifen über meine Unterschrift in die freie Fläche neben
Mom
. Nachdem ich mein Testament zusammengefaltet habe, lehne ich es zusammen mit dem Brief an Meredith gegen den Stiftebecher. Die Schreibtischlampe zittert von den Wellen, die gegen das Boot schlagen. Beide Kojen sind ordentlich gemacht. Keine Spur mehr davon, dass dort stundenlang gelernt, zusammen mit Holden überlegt und mit Nick über das Weltende diskutiert wurde. Keine Spur von der unglaublichen Nacht mit Meredith. Es war ein Ort, an dem es sich gut gelebt hat. Ein Ort, den ich nur schwer verlasse.
Draußen ist der Himmel lila und bräunlich rosa, als wäre er angeschlagen und wollte in sich zusammenschrumpfen, um nicht zu sehen, was dieser Tag bereithält. Wenn ich wirklich weggehen will, muss ich es jetzt tun. Hinter meinen Augen brennt es heiß. Morgen werde ich woanders sein und diesen Sonnenaufgang und diesen Horizont mit der Brücke darüber, diese vertraute feste graue Linie, die sechzehneinhalb Jahre lang mein Leben begrenzt hat, nicht mehr sehen. Ich hoffe, Merediths Eltern lassen sie bei meiner Familie bleiben, wenn sie die endgültige Nachricht bekommen. Zumindest für eine Weile. Ich sollte Nick noch mal schreiben – aber in einem eigenen Umschlag,
Weitere Kostenlose Bücher