Fänger, gefangen: Roman
fassen kriege. Das meiste von dem, was ich sage oder tue, ist mir selbst ein Rätsel. Holden setzt sich mit so was auch auseinander, aber er versteht es, er versteht es wirklich. Ich brauche ihn.
Man sollte meinen, mit fünf Leuten in der Familie müsste ich immer jemanden zum Reden haben. Leider funktioniert das nicht. Joe ist die meiste Zeit nicht hier. Nick kennt nur volle Fahrt voraus. Er kann nicht lange genug stillsitzen, um zuzuhören. Außerdem, was meine Brüder denken und fühlen, ist nicht das, was ich denke und fühle. Sie haben ihre eigenen Kämpfe auszufechten. Wie alle anderen auch.
Es ist komisch, weil alle außerhalb der Familie immer meinen, deine Familie versteht dich. Als läge es an den gemeinsamen Genen oder daran, dass alle im Haus dieselbe Luft atmen. Aber wenn du darauf wartest, dass deine Familie ihre Sachen stehen und liegen lässt und dich fragt, was dich beschäftigt, kriegst du vielleicht nie die Chance, darüber zu reden.
Grandma Sumner sagte immer: »Hört mal zu, ihr Zigeuner«, als wären wir fahrendes Volk und nicht bloß drei Jungen. Es spielte keine Rolle, dass wir ihre einzigen drei Enkel waren. Und ich hatte nichts dagegen, weil mir die Vorstellung gefiel, dass wir drei zusammen umherziehen. Ihr wisst schon, wie in den alten Geschichten von großen Zigeunerhorden in diesen komischen bunten Wagen, wo hinten der Kochtopf raushängt, mit Papageien und Ziegen und so vielen Kindern, dass du nicht weißt, wer zu wem gehört. Es sieht zwar chaotisch aus, aber alle ziehen in dieselbe Richtung, zur selben Melodie. Und sie stehen füreinander ein. Als wüssten sie, dass es eine Verschwörung gibt – wir allein gegen den Rest der Welt.
Als ich klein war, dachte ich, es würde immer so bleiben. Dass Joe und Nick immer mitkommen würden, wohin ich auch gehe. Einfach so. Ohne dass ich sie darum bitten muss. Es macht mich fertig, dass ich nicht mehr da sein werde und sie dann Sachen unternehmen, die wir zusammen machen sollten. Aber zumindest werden sie miteinander reden können, wenn es passiert ist. Aus der Art, wie Holden nicht über seinen Bruder Allie redet, weißt du, dass er es vermisst, nicht mehr mit ihm reden zu können. Wir drei Landon-Jungen sollten immer zusammen über Insiderwitze lachen und Joe mit seinen Lektionen über die wirkliche Welt aufziehen und mit Nick herumbalgen und seine pure Lebenslust spüren.
Wenn Grandma uns Zigeuner nannte, stellte ich mir vor, wie ich auch meine eigenen Kinder so rufe – mein Team, sobald Joe und Nick weggehen würden, um ihr eigenes Ding zu machen. Zigeuner – damit könnte der alltägliche Kram wie ein Abenteuer aussehen. Ich hör schon, wie Mack Petriano lästert: »Hallo, Mary Poppins.« Aber so meine ich das nicht, ehrlich. So ein Waschlappen bin ich nun auch wieder nicht. Gerade in letzter Zeit kapiere ich, dass niemand wirklich begreifen kann, wie ein anderer Mensch empfindet. Und die Vorstellung, dass Verpflichtungen oder Schule oder das Leben einen nicht runterziehen müssen, wenn man zusammenhält – das ist es, was mir gefällt. Odergefallen hat. Jetzt lohnt es eh nicht mehr, sich deswegen schlaflose Nächte zu machen.
Und obwohl Dad Grandmas Spruch geklaut hat und ihn in seinen Vorträgen über Kommunikation als Schlüssel zum Weltfrieden rumdreht, indem er das
Hört zu
betont und nicht die
Zigeuner
, streite ich nicht mit ihm darüber. Die Wahrheit ist doch, dass das Sandwichkind nie viel Sprechzeit bekommt. Wenn Joe hier ist, dominiert er jedes Gespräch. Ich schätze, das gilt als normal. Als Ältester kriegt man leicht die Versuch-Irrtum-Erziehungsmethode – Klappt oder klappt nicht! – voll ab, eins-zu-eins-mäßig. Joe war bei allem der Erste und musste für Nick und mich alle Barrieren niederreißen. Also denkt er wahrscheinlich, er hätte sich das Recht verdient, immer als Erster zu reden.
Nick, der Glückliche, schlittert einfach so durch. Wenn jemand ihm sagt, er dürfe dieses oder jenes nicht tun, lässt er sich davon nicht beirren. Er wartet einfach, bis sie nicht mehr aufpassen, und tut dann genau das, was er will. So wie Phoebe Caulfield.
In gewisser Weise ebnet mir die KRANKHEIT den Weg. Jetzt müssen sie mir zuhören.
Holden ist auf dasselbe aus. Er versucht, jemanden dazu zu bringen, ihn ernst zu nehmen. Aus ganz anderen Gründen natürlich. Und ich bin nicht sicher, ob er weiß, dass er deshalb das tut, was er tut, oder ob er sich nicht fragt, was der Sinn vom Ganzen ist. Aber er und ich denken sehr
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