Fahrt ohne Ende
Kartoffelfeuer. Der Herbstwind trieb ihren Rauch hierher und zur Stadt hinüber, wo aus dem Häusergewirr der Turm der Marienkirche aufragte.
Dann gab Jürgen Wolf die Hand: »Auf Wiedersehen, Wolf. Und halte, was du versprichst.«
Das war im Herbst 1941.
10. Kapitel
FLUCHT ZUM GROSSEN WALD
EIN PAAR MONATE NACH JÜRGEN wurden auch Tim und Kostja eingezogen. Der Krieg brauchte Menschen. Der Tod brauchte Menschen.
In der Stadt lebte die Gruppe trotz allem weiter. Es war — zumal im Anfang — nicht leicht. Aber Jürgen hatte in Altenberg gesagt: »Wenn ihr zusammenhaltet, schafft ihr das.« Und sie schafften es. Es war nicht zuletzt Wolf, der sie alle zusammenhielt. Wolf schrieb auch jede Woche einen Brief an Jürgen. Und Jürgen vergaß den Brief von Wolf selbst dann nicht zu beantworten, wenn er an der Front im schlimmsten Durcheinander steckte.
Im Sommer 1942 wurde Wolfs Klasse zusammen mit der Parallelklasse für zwei Monate in ein Ferienlager in die Tschechei geschickt. Diese Lager wurden gemeinsam von den Schulverwaltungen und der HJ. veranstaltet. Aber Wolf hatte Glück: als Lagerführer bekamen sie »Paule«, einen nicht mehr ganz jungen, aber recht ordentlichen Studienrat von ihrer Penne, und als Lagerhelfer fungierten ein paar ziemlich langweilige, aber wenigstens nicht schikanöse ältere HJ.-Jungen. Ort des Ferienlagers war ein kleines, keineswegs großartiges Schloß oberhalb eines Dorfes in der Nordost-Tschechei.
In den ersten sechs Wochen ereignete sich nichts Außergewöhnliches. Man machte des Morgens ein paar Stunden so etwas wie Unterricht — wobei mindestens die Hälfte der Jungen sowieso immer für »Küchendienst«, »Stubendienst« und ähnliche Obliegenheiten abkommandiert war —, dann beschäftigte man sich ausgiebig mit dem Mittagessen, nachher wurde gepennt, gepöhlt, einige wagten sich etwas in die Umgebung oder in den nahen Wald, je nach Lust und Laune.
Zu Beginn der siebenten Lagerwoche wurde die Stimmung dann plötzlich sehr gedrückt und schwül. Die meisten Jungen waren jetzt auf einmal mit allein unzufrieden, vom Unterricht morgen» über das Mittagessen und die Verpflegung allgemein bis zum Sport.
»So was Ödes«, »Immer derselbe Quatsch«, »Das hängt einem ja zum Halse ‘raus«, hieß es jetzt an allen Ecken. Mit einem Wort: man wollte nach Haus.
Wolf war es natürlich nicht weniger leid, dieses Lager, und er hatte nicht weniger Verlangen nach der Heimat wie die anderen auch. Aber er war zu stolz, sich das allzusehr anmerken zu lassen. Und er hatte ja auch einiges, was ihn über die Langweile hinwegtröstete: das Zusammensein mit Klaus, seine Klampfe, die er natürlich mitgenommen hatte, und nicht zuletzt die Briefe Jürgens, die erstaunlich regelmäßig hier ankamen. Auch von den Kameraden aus der Gruppe und von Tim und Kostja (der letztere stand an der Lappland-Front) bekam Wolf hin und wieder Post.
Paule, der an sich verpflichtet war, jeden ein- oder ausgehenden Brief zu kontrollieren und zu lesen, gab ihm die Briefe wie selbstverständlich immer ungeöffnet in die Hand.
Eines Tages liefen unter den Jungen des Lagers Gerüchte um, daß die Tschechen in der Gegend dort teilweise offenen Widerstand gegen die wenigen deutschen Besatzungskommandos zeigten und bald ein regelrechter Aufstand da sein werde. Wolf meinte:
»Ach, Unsinn, woher habt ihr denn den Blödsinn?«
Woher die Gerüchte eigentlich stammten, konnte keiner sagen. Aber sie hielten sich recht hartnäckig.
Die Jungen wurden immer unruhiger. Am nächsten Tag stellten sie eine »Gesandtschaft« zusammen und schickten sie zu Paule.
Paule sagte: »So, nach Hause wollt ihr? Tja, das möcht‘ ich schon lange. Die Frage ist nur: wie? Wir können das Lager hier erst an dem festgesetzten Termin auflösen. Vorher bekommen wir auch gar kein Transportmittel. Ihr wißt ja auch, daß im Augenblick jeder Pferdewagen bald in Rußland benötigt wird. Das tut mir leid... aber was soll ich machen? Die paar Tage müssen wir‘s eben noch aushalten hier.«
Die Enttäuschung der Jungen war groß. Daß Paule am gleichen Nachmittag noch zu dem deutschen Besatzungskommando ins Dorf hinunter ging, wußten sie nicht. Sie wußten auch nicht, daß er dort folgende Antwort erhielt:
»Sie erwarten von uns, daß wir Ihnen behilflich sind, die Jungen bis zur nächsten größeren Stadt zu transportieren? Ja, guter Mann, wie stellen Sie sich das vor? Wir haben ja selbst auch keinen Wagen. Und aus der Stadt können wir
Weitere Kostenlose Bücher