Fahrt zur Hölle
harmlos aussehender Auffahrunfall war, dauerte es ewig, bis er sich einen Weg durch das Knäuel gebahnt hatte. Lüder beschleunigte wieder, nahm den weiten Bogen, der in die vierspurige Ziegeleistraße führte, und konnte einen Blick auf den Fährschiffneubau werfen, der auf der anderen Seite der Förde am Kai der renommierten Flensburger Schiffbau-Gesellschaft lag, als er zur Förde hinabfuhr. Die großen Behälter der Kläranlage beachtete er ebenso wenig, wie er den Blick auf die Altstadt warf.
Hier konnte er die Straße gut einsehen und das Tempo auf über einhundert Stundenkilometer steigern, bis er kurz vor der Nordstraße eine Notbremsung einleiten musste, weil jemand die Breite der Fahrbahn nutzte, um zu wenden. Das Reedereigebäude, an dem er vorbeifuhr, lag friedlich in der nordischen Mittagssonne. Am Ende der Straße knickte diese scharf nach rechts ab und unterquerte zwei marode Eisenbrücken, wo ein großes Plakat für das weit über Flensburg hinaus bekannte Honky-Tonk-Kneipenfestival warb.
Zwischendurch hatte er von dem Beamten aus der Leitstelle gehört, dass die beiden Jessens ebenfalls diesen Weg gewählt und die große Kreuzung Richtung Rathausstraße überquert hatten. An diesem Verkehrsknotenpunkt lag der Zentralomnibusbahnhof und zur rechten Seite das beeindruckende Jugendstilgebäude der Flensburger Polizei, das jedem Luxushotel zur Ehre gereicht hätte.
Mühsam quälte sich die Autoschlange jenseits der Kreuzung den Anstieg der Rathausstraße zum Museumsberg vor. Weder Blaulicht noch Martinshorn halfen Lüder. Der Erste in der Reihe hielt an der roten Fußgängerampel an, die Passanten in der Fußgängerzone das Überqueren der Straße erlaubte.
Endlich ging es wieder voran.
»Die flüchtenden Fahrzeuge sind in den Holm eingebogen«, erklärte der Beamte aus der Leitstelle.
»Bitte?«, fragte Lüder ungläubig. »Das ist eine überaus belebte Fußgängerzone. Da kommt man doch nicht mit dem Auto durch.«
»Das müssen Sie mir nicht erklären«, erwiderte der Beamte pikiert.
Fast hätte Lüder einen entgegenkommenden Kleinlaster gerammt, der ihn trotz Blaulicht partout nicht links abbiegen lassen wollte. Ein schnauzbärtiger Fahrer mit kleinasiatischem Aussehen wirbelte seine Arme wild herum, bis er schließlich mit einer Hand drohte, während die andere mit ausgestrecktem Zeigefinger an die Stirn fuhr.
Lüder kam nur im Schritttempo voran. Der Holm mit seinen Geschäften war zwischen Neue Straße und Südermarkt einen Kilometer lang. Es war unverantwortlich, sich mit einem Auto in die dichte Menschenmenge zu drängen. Vergnügt bummelnde Fußgänger schienen ihn nicht zu bemerken, Kinder liefen vors Auto, und andere sahen das Auto mit dem rotierenden Blaulicht zwar an, unternahmen aber keine Bemühungen, ihm auszuweichen. Ähnlich musste es den beiden Jessens ergangen sein. Dicht umlagert von einem Kokon Neugieriger standen der Porsche Cayenne und der Audi Q7 mitten auf der Straße vor der Filiale einer Buchhandlung. Gleich nebenan hingen riesig lang die deutsche Flagge und der Danebrog vor dem Eingang der Holmpassage, eines Einkaufparadieses.
»Haben Sie neue Hinweise?«, fragte Lüder ins Telefon. »Ich habe die Autos entdeckt. Sie sind leer.«
»Offensichtlich sind die Täter zu Fuß Richtung Südermarkt geflüchtet«, erklärte der Beamte.
Es gab kein Durchkommen mehr. Zu groß war der Menschenauflauf. Lüder stoppte den BMW , stieg aus und nahm sich noch die Zeit, das Fahrzeug zu verriegeln.
»Was’n los?«, rief ihm ein Mann hinterher, während Lüder sich durch die Schaulustigen drängte und die Verfolgung aufnahm.
Er achtete nicht auf die bunten Schaufenster der Geschäfte, die mit ihrem breiten Angebot Kunden nicht nur aus dem ganzen nördlichen Landesteil, sondern auch aus Dänemark anlockten und sich mit zweisprachigen Angeboten auf die Skandinavier eingestellt hatten.
»Da längs«, wies ihm ein Mann mit ausgestrecktem Arm den Weg. Es mochten nicht mehr als hundert Meter bis zum Südermarkt sein, über dem die St.-Nikolai-Kirche thronte.
Lüder hielt kurz inne.
»Wohin?«, fragte er atemlos ins Handy.
»Ich habe Sie nicht verstanden«, antwortete der Polizist von der Leitstelle.
»Ich bin am Südermarkt. Wissen wir, wohin die Leute sich gewandt haben?«
Sein Atem ging stoßweise. Er wunderte sich immer wieder, wenn in Filmen die Polizisten scheinbar mühelos endlose Verfolgungsjagden zu Fuß unternahmen, ohne dabei jemals außer Puste zu geraten.
Im
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