Fahrt zur Hölle
Schwierigkeiten im geschäftlichen Umfeld, Drohungen? Liegen Unregelmäßigkeiten vor? Für uns ist alles von Bedeutung, auch die Dinge, die nebensächlich oder unbedeutend erscheinen.«
Für einen Moment herrschte Stille im Raum. Nils Jessen nagte an seiner Unterlippe. Dabei sah er starr auf die Tischplatte vor sich. Neben ihm saß ein Mann, der große Ähnlichkeit mit ihm aufwies. Die Tischseite wurde komplettiert durch einen weiteren Mann, dessen Haupthaar an den Ecken kräftig zurückgewichen war. Lediglich über der Stirn sprossen ein paar Härchen in einem Bündel. Lüder erinnerte der Haarschmuck des Mannes an Wum, der sich in den siebziger Jahren in der Quizsendung mit Wim Thoelke stets »eine kleine Miezekatze« gewünscht hatte.
»Nein«, meldete sich schließlich der Nachbar des Reeders zu Wort. »Alles war unauffällig. Wir sind tief erschüttert und fühlen mit der Familie. Es ist unfassbar, dass man Gerd Wollenhaupt erschossen hat.«
Blitzartig verstand Lüder die Anwesenheit der Flensburger Kripo. Offensichtlich war ein Mitarbeiter der Reederei ermordet worden.
»Es liegt eindeutig Fremdverschulden vor. Das steht fest«, erklärte Herdejürgens.
»Könnte ein Zusammenhang mit der Schiffsentführung gegeben sein?«, mischte sich Lüder ein.
»Schiffsentführung?« Herdejürgens unternahm gar nicht den Versuch, seine Überraschung zu verbergen. »Sie meinen das deutsche Schiff, das vorgestern im Golf von Aden gekapert wurde?«
Lüder nickte. »Deshalb bin ich hier.«
Der Hauptkommissar schlug verärgert mit der flachen Hand auf die Stuhllehne. »Da frage ich seit einer halben Stunde, und niemand sagt etwas.«
Die beiden anderen Männer in der Runde nickten. Ohne dass sie vorgestellt worden waren, nahm Lüder an, dass es sich um Beamte aus Herdejürgens’ Team handelte.
Lüder berichtete in wenigen Worten von der Entführung. »Ohne Ihnen vorgreifen zu wollen«, sagte er zum Hauptkommissar gewandt, »der ermordete Wollenhaupt hat welche Funktion in der Reederei wahrgenommen?«
»Er war Linienagent«, erklärte der Mann mit dem Wumhaarschnitt.
»Herr …«
»Jens Iversen. Ich bin der Prokurist«, stellte sich der Mann vor.
»Was macht ein Linienagent?«, fragte Lüder.
Iversen blies die Wangen auf. »Puhh. Vereinfacht ausgedrückt akquiriert er die Ladung. In einer kleineren Reederei wie der unseren, die zudem für zahlreiche Stammkunden fährt, ist er außerdem für viele weitere Aktivitäten rund um die Ladung zuständig.«
»Ladung?« Es klang wie ein Selbstgespräch, das Lüder führte. Dann visierte er Nils Jessen an. »Sie sind mir schon gestern in Berlin die Antwort schuldig geblieben. Was hat die ›Holstenexpress‹ geladen? Es ist doch kein Zufall, dass ausgerechnet Ihr Mitarbeiter, der für die Ladung verantwortlich ist, ermordet wird. Also?« Lüder hatte laut gesprochen. Er wies mit ausgestrecktem Finger zunächst auf Hauptkommissar Herdejürgens, dann auf sich. »Wir erwarten von Ihnen eine Antwort. Augenblicklich.«
Die drei Vertreter der Reederei sahen sich betroffen an. Es schien, als würde keiner von ihnen antworten wollen. Schließlich fuhr sich Iversen fahrig mit der Hand durchs Gesicht.
»Container«, sagte er. »Über fünftausend TEU .«
»Und? Was ist da drinnen?«
Nils Jessen hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Das wissen wir nicht. Das kann mein Bruder genauso wenig beantworten wie ich.«
Der Mann war also Ole Jessen, der jüngere Bruder von Nils Jessen. Die beiden betrieben die vom Vater übernommene Reederei, das hatte Lüder bereits ermittelt.
»Wusste Wollenhaupt, was die ›Holstenexpress‹ geladen hat?«, fragte Lüder.
»Nur in groben Zügen. Alles ist korrekt verzollt abgewickelt worden. Die Container werden vom Zoll verplombt und von uns nicht geöffnet oder kontrolliert. Wir sind nur für den Transport zuständig und müssen uns darauf verlassen, was der Versender uns aufgibt«, erklärte Jens Iversen.
»Ist es Ihnen lieber, wenn wir nach der Freigabe des Schiffes jeden einzelnen Container öffnen? In Le Havre und in Hamburg?«
Iversen räusperte sich. »Wir bekommen die Meldungen über den deklarierten Inhalt der Container heute im Datenaustausch.«
»Dann müssten Sie eine Übersicht haben.«
»Ja. Das ist für den Laien aber nicht immer verständlich. Zum einen ist es natürlich alles auf Englisch, zum zweiten bedienen wir uns internationaler Codeziffern, nach denen auch der Zoll vorgeht.«
»Wir möchten das trotzdem sehen.
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