Fahrt zur Hölle
floss, als es auf diesem Abschnitt sonst üblich war. Das Verkehrsaufkommen war weit von dem Chaos entfernt, das in anderen Teilen der Republik an Ferienwochenenden herrschte, aber die Kennzeichen aus allen Teilen Deutschlands zeugten davon, dass viele Urlauber ihr Feriendomizil ansteuerten.
Lüder verließ die Autobahn an der Abfahrt Harrislee und ärgerte sich, als er in einen Stau geriet. Er hatte nicht bedacht, dass hier auch die Urlauber abfuhren, die an die Westküste auf die Inseln wollten, zur Autoverladung nach Sylt oder zum Fährhafen nach Dagebüll.
Die Reederei GAEL – German Asia Express Line – hatte ihr Geschäftsgebäude in einem alten Wohnhaus am Hafendamm am Ostufer des Hafens. Das Haus war mit seinen Zierelementen ein Hingucker. Friese und Ornamente umrahmten die gelungene Kombi- nation aus weißem Putz und roten Ziegeln. An der Ecke strahlte ein über alle drei Etagen laufender Runderker Behaglichkeit aus. Auch der große Baum im Vorgarten harmonierte mit dem Gesamteindruck. Schade, dachte Lüder, dass man sich heute weder Zeit noch Geld nahm, um solche Blickfänge zu schaffen.
Lüder wunderte sich, dass vor dem Haus zwei Streifenwagen sowie ein VW Passat standen, auf dessen Dach noch das mobile Blaulicht befestigt war. Er stellte sich in eine kleine Gasse direkt neben dem Haus entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung.
Ein Schutzpolizist hielt ihn am Eingang auf, prüfte akribisch seinen Dienstausweis und gab dann den Zugang frei.
»Ich glaube, die Herren sind im zweiten Stock«, sagte der Beamte.
Bereits an der Treppe wurde er von mehreren Angestellten mit neugierigen Blicken empfangen.
»Gehören Sie auch dazu?«, fragte ein Mann mit grauen Haaren. Als Lüder nickte, zeigte der Angestellte auf eine Tür. »Dort drin.«
Lüder klopfte kurz an, ein höfliches Pro-forma-Klopfen, bevor er die Tür öffnete und den Raum betrat. Es war ein kleiner Besprechungsraum mit acht Stühlen, die um einen schlichten Holztisch gruppiert waren. Eine Weltkarte nahm fast eine ganze Seitenwand ein. Durch die Fenster hatte man einen Blick auf den Flensburger Hafen, den Museumshügel, die Anhöhe hinter dem Zentrum, die bezeichnenderweise auch »westliche Höhe« hieß.
Besucher von außerhalb waren stets erstaunt, direkt an der Förde die Höhen zu entdecken, die Flensburg ausmachten. Die Hafenspitze galt als beliebter Treffpunkt nicht nur der jungen Leute, und im Wasser bewegten sich sanft die Masten zahlreicher Segelboote.
Am anderen Ufer war die ›Alexandra‹ zu erkennen, eines der Wahrzeichen der Stadt. Der über einhundert Jahre alte Salondampfer ist das letzte dampfgetriebene seegehende Schiff Deutschlands.
Lüder konzentrierte sich wieder auf den Raum. Fast alle Stühle waren besetzt. Nur hinter einem stand ein Mann, Lüder schätzte ihn auf Ende dreißig, der sich auf der Stuhllehne abstützte. Er trug eine gepflegte Jeans und ein Sporthemd mit offenem Kragen, darüber eine leichte Wildlederjacke. Der Mann hielt mitten im Satz inne und starrte Lüder an. Die Verärgerung über die Störung war ihm deutlich anzumerken.
»Was wollen Sie?«, fragte er in barschem Ton. »Wir möchten nicht gestört werden.«
»Lüders, Kripo Kiel«, erwiderte Lüder.
»Der war gestern in Berlin dabei«, meldete sich Nils Jessen zu Wort, der mitten in der Runde saß.
»Kiel?«, fragte der Wortführer. »Wieso Kiel? Wir sind zuständig.«
Lüder schloss aus den Ausführungen, dass es sich um einen Kollegen handelte.
»Landeskriminalamt«, ergänzte er deshalb.
» LKA ? Seit wann interessiert sich das Amt für Flensburg?«
»Herr …« Lüder sah den Mann fragend an. Er wollte nicht in Gegenwart Außenstehender mit einem Kollegen diskutieren.
» KHK Herdejürgens. K1 von der BKI .«
»Lüders. Abteilung 3«, stellte er sich vor und unterdrückte den KR für den Kriminalrat. Aus Herdejürgens’ Vorstellung hatte er entnommen, dass er KHK – Kriminalhauptkommissar – war. Lüder wunderte sich, dass das Kommissariat 1 der BKI Flensburg, der Bezirkskriminalinspektion, anwesend war, dessen Zuständigkeit schwerpunktmäßig Straftaten gegen das Leben, aber auch Brandstiftungen und andere schwere Vergehen waren. Er nahm auf dem freien Stuhl Platz, nickte Herdejürgens zu und sagte: »Ich möchte nur zuhören.«
Der Hauptkommissar fuhr sich kurz mit der Hand durch das aschblonde Haar und fuhr fort. »Wir brauchen eine Aufstellung aller Personen, mit denen Gerd Wollenhaupt Kontakt hatte. Gab es
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