Fahrt zur Hölle
erfundene Geschichte.
»Wie blöde muss man sein, um sich einem solchen Risiko auszusetzen«, mischte sich die andere Stimme ein.
»Wer ist das?«, fragte Lüder den Kapitän.
»Wadym Kalynytschenko, mein Erster Offizier«, sagte Syrjanow mit matter Stimme.
Lüder erinnerte sich an die Besatzungsliste, die er in Flensburg gesehen hatte. Der zweite Mann an Bord war ein siebenunddreißigjähriger Ukrainer.
»Mich interessiert die Geschichte hinter der Entführung«, erklärte Lüder. »Haben die Piraten es auf die Ladung abgesehen?«
»Bei allen bisherigen Entführungen ging es nur ums Lösegeld«, sagte der Kapitän. »Die Piraten sind Kriminelle. Das ist alles. Es gibt keine Hintergrundstory.«
Genau das war die Frage, die Lüder beschäftigte. Warum ließen sich die Piraten so lange Zeit, um ihre Forderung vorzutragen?
»Was hat die ›Holstenexpress‹ geladen?«
»Vieles«, erwiderte der Kapitän. »Als wir noch Stückgut fuhren, hatte man einen besseren Überblick. Heute sind es Container. Da kann alles Mögliche drin sein.«
»Nennen Sie ein paar Beispiele.«
»Sie stellen merkwürdige Fragen«, warf Kalynytschenko ein.
»Das pflegen Journalisten berufsmäßig zu tun.«
»Ich glaube nicht, dass Sie Journalist sind.«
»Was denn?« Lüder hielt für einen Moment den Atem an.
»Vielleicht kommen Sie von einer Versicherung und suchen nach Gründen, die Zahlung des Lösegeldes zu verweigern.«
Darüber wurde in Berlin nicht gesprochen, überlegte Lüder. Niemand hatte erwähnt, dass es eine solche Versicherung für die ›Holstenexpress‹ und ihre Besatzung gab.
»Ist das Schiff versichert?« Lüder richtete seine Frage an den Ersten Offizier.
»Da müssen Sie die Reeder fragen.«
»Wissen Sie das?«, wandte sich Lüder an den Kapitän.
»Darüber sind wir nicht informiert. Und zu Ihrer Frage nach der Ladung … Die Piraten haben uns gezwungen, das Schiff vor der Küste vor Anker zu legen. Dort kann niemand die Ladung löschen. Hier gibt es nicht das notwendige Geschirr. Und wie wollen Sie das logistisch bewerkstelligen? Die Gegend ist vermutlich sehr einsam.«
Das konnte Lüder bestätigen. Würde es wirklich gelingen, Teile der Container umzuladen, würde die Deutsche Marine die Feederschiffe per Satellit bis zum Bestimmungshafen verfolgen und mit Hilfe der dortigen Behörden eingreifen. Ein Transport über Land war ausgeschlossen. Und für den möglicherweise sehr wertvollen Inhalt eines einzelnen Containers konnten sich die Entführer nicht interessieren. Sie hatten nicht die technischen Möglichkeiten, die in vielen Lagen übereinanderstehenden Behälter zur Seite zu räumen, um an einen bestimmten heranzukommen.
»Warum zieren Sie sich, Auskünfte über die Ladung zu erteilen?«, fragte Lüder.
»Wissen Sie, was es bedeutet, ein Schiff zu führen? Um was es sich zu kümmern gilt? Lediglich bei gefährlichen Gütern ist es für den Kapitän bedeutsam zu wissen, was er an Bord hat. Außerdem ist für die Ladung der Erste Offizier zuständig.«
»Dann sagen Sie es mir«, forderte Lüder Kalynytschenko auf. »Oder ist das ein Geheimnis? Vielleicht können mir die Piraten die Fragen beantworten. Ich glaube, ich werde sie darauf ansprechen.«
Der Erste Offizier stand auf. Er war ein großer, breitschultriger Mann. Er baute sich vor Lüder auf und sah auf ihn hinab.
»Sie sollten Ihre Klappe halten. Unsere Lage ist schlimm genug. Wenn Sie auch noch unqualifizierte Gerüchte streuen, kann es noch ärger werden. Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen? Sofern Sie hier lebend herauskommen, könnte man es als konspirative Zusammenarbeit mit den Verbrechern auslegen. Das ist sicher Ihrer Karriere nicht förderlich. Und Ihrer Gesundheit auch nicht.« Die Drohung hinter dieser Warnung war unüberhörbar.
»Halten Sie endlich die Klappe. Ihre Fragen sind hier nicht angebracht«, meldete sich der Mann, den Piepstengel als Schöster vorgestellt hatte, zu Wort. Der Zahlmeister. »Die Menschen in diesem Verlies haben andere Sorgen. Lassen Sie den Kahn und die Scheißladung doch absaufen, wenn wir hier nur rauskommen. Und das einigermaßen heil und gesund. Als Schönwetterjournalist haben Sie keine Ahnung, was hier vorgeht.« Schöster hatte englisch gesprochen.
»Dann erklären Sie es mir«, erwiderte Lüder. »Ich möchte es gern verstehen.«
Kalynytschenko trat Lüder gegen das Knie. Es war nicht heftig, aber spürbar.
»Maul halten«, sagte der Erste Offizier im Befehlston.
»Sie haben
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