Faith (German Edition)
Ihre Welt war schön, sie wollte sie sehen.
„Ich muss raus hier.“
Sie wusste, Annabelle würde es nicht gefallen, wenn sie draußen herumliefe. Aber verhindern konnte sie es auch nicht. Annabelle wusste sehr wohl, dass sie niemals die Kräuter und den Saft der Beeren zu sich nahm, die die Reifen ruhigstellen sollten. Sie ging aus dem Zimmer, öffnete die Tür zum grauen Tunnel und verschwand hoch erhobenen Hauptes Um die zeternden Lulabellen hinter ihr kümmerte sie sich nicht.
Corax flog schnurgerade auf das Musikzimmer zu, in dem er sie gewöhnlich fand. Aber die alte Herrscherin war nicht da. „Coraaax!“ Mit schräggestelltem Kopf schaute er sich um. Er knötterte vor sich hin, streckte einen Flügel aus und ordnete, indem er die Brustfedern durch den Schnabel zog, sein Gefieder. Eine blauschwarze Feder taumelte zu Boden.
Corax fand seine Herrin am Meer.
Sie stand aufrecht, das Gesicht dem Wasser zugewandt. Die grünen Augen leuchteten und spiegelten das Blau der Wellen. Sie genoss den Wind, der ihr einen leichten Schwindel verursachte, ihr Gewand flattern ließ und mit ihren weißen Haaren spielte.
Sie war so vertieft in den Anblick des Meeres und das Gefühl von Freiheit, dass sie den Raben erst bemerkte, als er sich auf ihrer Schulter niederließ.
Er saß ganz still und sie konnte durch den Raben ihre Tochter sehen und hören. Sie sah die Tränen, aber auch den Mut, mit dem Magalie Leathans Forderung entgegentrat.
Auch Magalie wusste, dass sie Faith die Prophezeiung allein erfüllen lassen musste. Sie konnte ihr nur helfen, wenn Faith sich gegen diesen Weg entschied.
Niemals würde sie sich einmischen, wenn sie nicht ausdrücklich darum bat. Nur so konnte Leathan in seine Schranken verwiesen werden.
Sie strich sanft über Corax’ glänzendes Gefieder, der Vogelkörper stemmte sich ihrer Hand entgegen, um so viel wie möglich von dieser Berührung zu spüren. „Wenn du eine Katze wärst“, flüsterte sie in sein Gefieder, „würdest du jetzt schnurren, nicht wahr, mein Lieber?“
Als Corax begann, freundlich an ihrer Nase zu knabbern, wandte sie lachend den Kopf ab. „Was machen wir nun mit Robert? Magalie liebt ihn verzweifelt, obwohl er ein Sterblicher ist.“ Sie schüttelte den Kopf, ihre Tochter war eigensinnig wie ein Maulesel. Sie fragte sich, ob sie nicht zum ersten Mal in ihrem langen Leben eine Ausnahme machen sollte, um diesen Fluch zu durchbrechen. Robert würde sterben, wenn sie nicht eingriffe. Die alte Herrscherin konnte die namenlose Trauer ihrer Tochter spüren.
Sie war unruhig und unentschieden. Dieses alte Gesetz zu durchbrechen, hatte ihres Wissens noch niemand gewagt. Wenn es nicht gelänge, würde es Robert sofort das Leben kosten. Ohne diesen Versuch hätte er noch Monate vor sich.
„Was machst du hier?“
Annabelle!
„Ich mache einen Gang am Meer entlang und hänge meinen Gedanken nach.“
„Kannst du das nicht in eurem Flügel tun?“
„Was, am Meer entlanggehen?“ Die alte Herrscherin schmunzelte.
„Du weißt, was ich meine.“
Annabelle war nicht zum Scherzen aufgelegt.
„Annabelle, ich weiß, es fällt dir schwer, zu sehen, wie auch du eines Tages sein wirst. Auch du wirst älter und vergehst, es ist nicht das Schlechteste, glaub mir. Schlecht daran ist nur, wie ihr Jungen damit umgeht. Uns wegzusperren ist keine Lösung, du wirst dadurch nicht jünger. Man kann das Alter nicht aussperren. Es gehört zum Leben dazu. Auch zu deinem.“
Annabelle starrte trotzig aufs Meer und schwieg. Sie wollte nicht hören, was die Reife ihr zu sagen hatte.
„Ich werde jeden Tag kommen und ich werde die anderen Reifen mitbringen.“
In Annabelles Ohren klang das wie eine Drohung.
Die alte Herrscherin betrachtete Annabelle, sah, wie schön sie war. Sie trug nichts als ein seidenes Hemd, dessen durchscheinender Stoff ihre schlanke Gestalt umspielte.
Ihre Haut wirkte trotz der Hitze glatt und kühl wie polierter Marmor, ihre bloßen Füße versanken im Sand. Annabelle war makellos.
Der fliegende Bote
Magalie hatte die Haare zurückgebunden. Sie steckte in einem grasgrünen Overall. Die Hosenbeine bis unter die Knie hochgekrempelt, stand sie seit dem Morgengrauen auf dem Acker. Nachdem sie Robert, zu spät, zurückgebracht hatte, hatte sie sich in einen rücksichtslosen Aktivismus geflüchtet. Sie wollte nicht denken, der Trauer keinen Raum geben, aber es gelang ihr nicht, Robert aus ihren Gedanken zu verbannen.
Sie grub wie besessen Meter um Meter des
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